Pflegekräfte aus Südamerika sollen den Personalnotstand in Deutschland lindern. Doch einige brasilianische Bewerber fühlten sich über den Tisch gezogen, nach Bedenken der Lula-Regierung setzen deutsche Behörden eine wichtige Kooperation aus. Und eine Frage bleibt: Gibt es überhaupt genug Bewerber?
Es muss sehr heiß gewesen sein, als Hubertus Heil im August letzten Jahres nach Brasilien flog. Fotos zeigen den Bundesarbeitsminister mit geöffnetem Hemdkragen, das Jackett hatte er gleich ganz weggelassen. Heil war in die brasilianische Hauptstadt gereist, um gemeinsam mit Amtskollegin Annalena Baerbock für fairen Handel zu werben und – wichtiger noch – für die Rekrutierung brasilianischer Pflegerinnen, die dem heimischen Fachkräftemangel entgegenwirken sollen.
Zur Unterzeichnung der entsprechenden Absichtserklärung mit dem brasilianischen Arbeitsminister Luiz Marinho trugt Heil dann wieder Anzug, am Sakko eine Anstecknadel mit zwei umwobenen Flaggen: Deutschland und Brasilien. Alles sollte im Zeichen der Partnerschaft stehen.
Nun bekommt das Bündnis Risse. Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) und die Bundesagentur für Arbeit (BA) bestätigen nach einer Recherche von WELT: Die bereits im Juni 2022 vereinbarte Vermittlungsabsprache zwischen der BA und der brasilianischen Pflegekammer Conselho Federal de Enfermagem (Cofen) ist seit Ende 2023 ausgesetzt. Über das Programm rekrutierten deutsche Unternehmen mithilfe der BA Pflegekräfte aus dem südamerikanischen Land. Zuerst hatte das brasilianische Online-Medium Band.com in Kooperation mit der Deutschen Welle über das Thema berichtet.
Auf Brasilien ruht große Hoffnung im Zuge der sogenannten Fachkräfteeinwanderung. Schon heute fehlen laut dem Deutschen Pflegerat (DPR) 115.000 Pflegekräfte – 2034 könnten es bis zu 500.000 sein, lautet die Warnung. Im besten Fall, so lautete der Ampel-Plan, sollten 700 Pflegerinnen aus Brasilien im Jahr nach Deutschland kommen. Anlässlich der „Absichtserklärung für faire Einwanderung“, die Heil und Marinho unterzeichneten, sagte der SPD-Minister: „Wir suchen helfende Hände für viele Bereiche. Das darf aber nicht zu Lohndrückerei führen.“
Faire Arbeitsbedingungen in Deutschland – genau daran scheinen Teile der brasilianischen Regierung und der dortigen Pflegekammer (Cofen) zu zweifeln. „Wir hatten ein Problem im Zusammenhang mit der Absicht Deutschlands, Arbeitskräfte aus dem Pflegebereich zur Arbeit nach Deutschland zu holen“, zitiert die Deutsche Welle Arbeitsminister Marinho. „Aber sie haben sich nicht an die Verfahren gehalten, auf die wir uns geeinigt haben.“
Ein knappes Jahr nach Heils Besuch in Südamerika scheint die Liebe zum Projekt zumindest auf brasilianischer Seite erkaltet – dabei sollte die Absichtserklärung neuen Schwung in die Partnerschaft bringen. Vermehrt soll es Beschwerden über den Umgang mit dem abgeworbenen Personal gegeben haben. Deutsche Vermittler haben laut Deutscher Welle gefordert, dass die Bewerber die Kosten für notwendige Deutschkurse, die Flugreise und die Anerkennungsprozedur zurückzahlen müssten, wenn sich eine Pflegekraft entscheidet, den Vertrag zu kündigen.
Viele hätten sich dadurch unter Druck gesetzt gefühlt. Eine vorzeitige Rückkehr würde dann eine Verschuldung der abgeworbenen Brasilianer bedeuten. Die Bundesagentur sagt auf Nachfrage: „Zurückgeforderte Rekrutierungskosten sind uns nicht bekannt.“ Die Vermittlungsabsprache sehe klar vor, dass nicht an Arbeitgeber vermittelt wird, die sogenannte Betriebstreueklauseln mit Rückzahlungsverpflichtungen in ihre Verträge schreiben. Bei den Firmen, gegen die die Vorwürfe erhoben wurden, muss es sich nach Darstellung des BMAS also um private Vermittler handeln, die nicht mit der Bundesagentur kooperiert haben.
Von einem „Skandal“ spricht gar DPR-Präsidentin Christine Vogler. „Hierdurch wird Druck aufgebaut, der eine klare diskriminierende und absolut zu verurteilende Haltung zeigt.“ Im Übrigen gehöre es zum unternehmerischen Risiko, dass Beschäftigte ihre Stellen wechseln, wenn beispielsweise die Arbeitsbedingungen nicht stimmig seien.
Darüber hinaus berichteten laut Deutscher Welle einige Pflegekräfte, dass ihnen die berufliche Anerkennung verweigert werde und sie so nicht über den Status einer Pflegeassistentin hinauskommen würden – also deutlich niedriger bezahlt werden. In Nürnberg widerspricht man deutlich: „Fälle von Pflegekräften, die von der BA vermittelt worden sind und trotz erfolgreicher Anerkennung als Fachkraft nur als Hilfskräfte eingesetzt werden, sind uns nicht bekannt und wären rechtlich auch nicht zulässig gewesen“, sagt ein Sprecher der BA.
Generell verteidigt die Behörde die Anwerbungen. Über die Vermittlungsabsprache habe man sich „an alle Vereinbarungen gehalten“. Die entsprechenden Dokumente wurden im Juni 2022 auf Empfehlung der damaligen brasilianischen Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro und dem Pflegeverband unterzeichnet.
Lieber vor Ort ausbilden
Es scheint aber noch einen anderen Grund für das Aussetzen des Abkommens zu geben. Das brasilianische Arbeitsministerium soll Berlin inzwischen drängen, die Abwerbeversuche generell einzustellen. Besonders deutlich äußerte sich Maira Lacerda, die im brasilianischen Ministerium internationale Projekte koordiniert, gegenüber der Deutschen Welle.
Länder, die qualifiziertes Personal brauchen, sollten Menschen aus ärmeren Regionen vor Ort ausbilden, statt gut ausgebildete Fachkräfte einfach mitzunehmen, ohne das abgebende Land zu entschädigen, sagte sie: „Warum kommen sie hierher, um eine Fachkraft zu holen, die ausgebildet ist und in die die brasilianische Regierung investiert hat, und bringen sie dann dorthin, ohne eine Gegenleistung dafür zu bekommen?“
Genau diese Debatte will Hubertus Heil eigentlich vermeiden. „Mir ist es wichtig, dass beim Thema Fachkräfteeinwanderung alle profitieren“, sagte er letztes Jahr vor Ort. Die Länder, aus denen die Migranten kommen, müssten einen Nutzen haben. Die neu gewählte brasilianische Regierung indes hat eine andere Sicht auf die Dinge.
Sie äußerte „Bedenken zur Vermittlungsabsprache“, heißt es bei der BA. Zudem ziehe sie den „ursprünglich von brasilianischer Seite kommunizierten Überschuss an Pflegefachkräften in Brasilien“ infrage. Auch das ist ein Widerspruch zur deutschen Sichtweise: Laut Heils Ministerium ist jede zehnte Pflegekraft in Brasilien arbeitslos.
Keine Anwerbung gegen den Willen der Länder
„Da die Bedenken der brasilianischen Regierung noch nicht ausgeräumt werden konnten, entschied die BA entsprechend den Grundsätzen der ‚Fairen Mobilität‘ ihre Aktivitäten im Rahmen der Vermittlungsabsprache auszusetzen“, sagt ein Sprecher der Bundesagentur. Denn die Grundsätze der „Fairen Mobilität“ sehen vor, dass keine Anwerbung entgegen den Wünschen des jeweiligen Landes stattfindet und ein „Braindrain“ vermieden werden muss.
Andreas Berger sieht ein grundsätzliches Problem mit den Vermittlungsbemühungen. Berger, der eigentlich anders heißt und seinen echten Namen nicht gedruckt lesen möchte, arbeitet für ein Unternehmen, das Arbeitskräfte in Brasilien und anderen Ländern anwirbt. „Die privaten Vermittler haben einen schlechten Ruf“, sagt er. „Aber zu Unrecht.“ Er verweist auf das staatliche Gütesiegel „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“. Die Rekrutierung über Unternehmen, die das Siegel tragen, laufe ganz normal weiter.
Die BA hingegen arbeite nach eigenen Richtlinien und müsse nicht überprüfen, ob die jeweiligen Arbeitgeber Standards, vergleichbar mit denen des Siegels, einhalten. „Die Vorgaben für Unternehmen, die das Gütesiegel tragen, sind streng und detailliert. Den Arbeitskräften vor Ort wird von Anfang an klargemacht, was von ihnen erwartet wird und wie die Abläufe sind“, sagt Berger.
Andere Anbieter würden das nicht tun, vermutet er. „So kann es dazu kommen, dass Menschen, die in Brasilien mehrere Jahre studiert haben und hierzulande mit entsprechendem Gehalt in den Job starten möchten, am Ende eine große Enttäuschung erleben, weil sie noch mehrere Jahre Nachqualifizierungen zu durchlaufen haben.“
Berger findet die Anforderungen an ausländische Pflegekräfte hierzulande generell zu hoch: „Deutschland stuft die Leute regelrecht runter. Man darf Pflegekräften, die jahrelang studiert haben, durchaus zutrauen, dass sie alte Menschen nicht totpflegen.“
Auch bei der BA kennt man das Problem. „Für ausländische Partner und auch für die Pflegekräfte selbst ist oft schlecht nachvollziehbar, warum die Vorschriften in Deutschland vorsehen, dass in Deutschland zunächst ein umfassendes Anerkennungsverfahren mit Anpassungsqualifizierungen erforderlich ist, um als Pflegefachkraft arbeiten zu können“, heißt es auf Nachfrage.
„Ein temporärer Stopp der Anwerbung seitens der BA würde wohl kaum Auswirkungen haben, außer einem Reputationsverlust“, sagt hingegen Ann-Christin Wedeking vom Verein für Anwerbung und Vermittlung von Pflegekräften aus dem Ausland. Laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der CDU-Fraktion kommen bis zu 90 Prozent der Fachkräfte ohnehin über private Vermittler nach Deutschland, die Bemühungen von staatlicher Seite machen also nur einen kleinen Teil aus.
Doch immerhin: Hat die BA im Jahr 2022 noch 1200 Personen aus dem Ausland in die Pflege vermittelt, waren es 2023 bereits 1650 – eine Erhöhung um 37 Prozent. Infolge des Aussetzens der Vereinbarung mit Brasilien dürfte es nun schwer werden, die Zahlen abermals nach oben zu bringen.