Die EU-Kommission plant nach dem grünen Nachhaltigkeits-Label bereits die nächste Finanzempfehlung. Die Behörde will Unternehmen daraufhin untersuchen, ob sie gesellschaftlichen Nutzen stiften. Ein internes Papier zeigt: Das Konfliktpotenzial ist gewaltig.
Nach dem Streit um das Nachhaltigkeits-Label für Atom und Gas droht der EU die nächste große Taxonomie-Debatte. Die Europäische Kommission prüft, große Teile der europäischen Wirtschaft daraufhin zu untersuchen, ob sie unter dem Strich gesellschaftlichen Nutzen oder eher Schaden stiften.
Die sogenannte soziale Taxonomie soll analog zur grünen Variante Anlegern signalisieren, welche Unternehmen dem Gemeinwesen dienen und sich deshalb für die immer wichtiger werdenden Anlagen nach sozialen Standards eignen. Die Klassifizierung bietet allerdings erhebliches Konfliktpotenzial; das zeigt ein internes Papier, das WELT vorliegt.
Der Runde Tisch für nachhaltige Finanzen, ein von der Kommission eingesetztes Expertengremium, gibt darin Empfehlungen, wie Unternehmen auf ihren sozialen Nutzen hin bewertet werden sollten. Eigentlich sollte die Kommission die Empfehlungen schon Ende vergangenen Jahres veröffentlichen. Der Termin wurde allerdings verschoben – vermutlich unter dem Eindruck der sehr kontrovers geführten Debatte um die grüne Taxonomie.
Soziale Taxonomie für Unternehmen
Erst im Laufe dieses Jahres werde es so weit sein, sagte Kommissionssprecher Daniel Ferrie zu WELT. Die Expertenrunde, die von einer Vertreterin der deutschen evangelischen kirchlichen Anleger geleitet wird, empfiehlt in dem Papier, das im November – vor dem ursprünglichen Veröffentlichungstermin – verfasst wurde, ein zweifaches Urteil: Stiften die Produkte und Dienstleistungen der betreffenden Unternehmen an sich sozialen Nutzen, oder sind sie sozial schädlich? Und verhält sich das Unternehmen abgesehen vom eigentlichen Produkt sozialverträglich, oder nicht?
Das Papier listet auch Beispiele: Unternehmen könnten danach beurteilt werden, ob sie allen Mitarbeitern auskömmliche Löhne zahlen, ob sie vor allem die weniger gut bezahlten Mitarbeiter regelmäßig schulen, wie hoch der Lohnunterschied zwischen Management und regulären Beschäftigten ist, oder in welchem Umfang sie Kinderbetreuung und betriebliche Altersvorsorge anbieten.
Bewertet werden soll aber nicht nur der Umgang mit den Mitarbeitern und die Bedingungen für die Beschäftigten von Zulieferern, sondern auch der Nutzen für die Kunden und die Gesamtgesellschaft. Molkereien und Kaffeeröster sollen nachweisen, dass sie Bauern in Europa und in Entwicklungsländern angemessene Preise zahlen, Wohnungsbauunternehmen, dass sie ausreichend Sozialwohnungen bauen, Immobilienverwalter darauf, wie hoch ihre Mieten im regionalen Vergleich sind, und Pharmaunternehmen danach, ob ihre Medikamente in allen Ländern, in denen sie verkauft werden, erschwinglich sind.
Herstellern von Landminen oder Tabakprodukten soll das Nachhaltigkeits-Label von vornherein verwehrt werden. Verbraucher- und Datenschutz sollen eine Rolle spielen, genauso wie die Frage, ob das Unternehmen ein guter Steuerzahler ist oder aggressive Steuersparmodelle nutzt.
Reaktion auf Taxonomie-Pläne der EU
Die Reaktionen aus der Wirtschaft sind dementsprechend durchwachsen. „Die Ausweitung der Taxonomie auf soziale Themen ist ein glattes Eis, auf das sich die Kommission nicht begeben sollte“, sagte etwa Steffen Kampeter, der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes BDA, zu WELT. „Eine vernünftige Sozialpolitik gehört auf die nationale Ebene; die EU sollte das respektieren und sich zurückhalten.“ Auch der Maschinenbauverband VDMA und der europäische Arbeitgeberverband Business Europe haben die Pläne bereits abgelehnt.
Unterstützung kommt dagegen von Gewerkschaftsseite: „Die grüne muss unbedingt durch eine soziale Taxonomie ergänzt werden“, sagt etwa Reiner Hoffmann, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), zu WELT.
„Tarifbindung und Mitbestimmung müssen dabei zwingend eine zentrale Rolle spielen. Nur dann kann die EU-Taxonomie privaten und öffentlichen Investoren eine umwelt- und sozialverträgliche Orientierung geben.“
Auch das Europäische Parlament ist gespalten. „In Europa haben wir die höchsten Sozialstandards der Welt. Sozialpolitische Fragen sollten über die Sozialpolitik gelöst werden und nicht über Finanzmarktregulierung“, sagt etwa der CSU-Abgeordnete Markus Ferber. „Neue Klassifizierungssysteme schaffen nur neue Berichtspflichten und Bürokratie, aber keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.“
Aus der Grünen-Fraktion und der Fraktion der sozialdemokratischen S&D kommen hingegen Forderungen nach einer sozialen Taxonomie. In der Kommission zögert man derweil offenbar, das heiße Eisen anzupacken. Die Kommission sei nicht verpflichtet, die Empfehlungen auch tatsächlich anzunehmen, sagt Behördensprecher Ferrie.
„Der Report nimmt keine künftigen Entscheidungen der Kommission im Bereich nachhaltige Finanzen vorweg. Es gibt keine Pläne der Kommission in diesem Sinne.“