Das größte Gasfeld Europas liegt nur wenige Kilometer hinter der deutschen Grenze im niederländischen Groningen. Schon seit 40 Jahren wird hier weniger gefördert als möglich wäre. Nächstes Jahr soll es voraussichtlich ganz schließen. Denn das Gas verursacht ernsthafte Probleme.
Erst gibt es einen Knall. Dann vibriert das Glas der Fensterscheiben, Bücher fallen um, Bilder von den Wänden. Am Tag danach sind Risse im Mauerwerk zu sehen. So beschrieb Dick Kleijer dem Deutschlandfunk schon vor sieben Jahren seinen Alltag in Loppersum auf dem niederländischen Land. Vielleicht, so überlegte er damals, sei es sicherer, wenn er ab sofort mit seiner Frau im Gartenhäuschen schlafe. Das sei aus Holz, da seien sie beim nächsten Erdbeben sicherer.
So wie Kleijer geht es vielen Menschen in den Niederlanden. Die gesamte Landschaft zwischen der Großstadt Groningen und der Nordsee ist ein Erdbebengebiet. Schon 1985 wurden hier die ersten Erschütterungen gemessen, seit 2005 werden sie immer intensiver. Das stärkste erreichte 2012 einen Wert von 3,6 auf der Richter-Skala. Zu wenig für eine Katastrophe, aber mehr als genug, um Schaden anzurichten – materiellen an den Häusern und mentalen bei den Bewohnern. Rund 150.000 Häuser in der Region sind beschädigt, rund 10.000 Einwohner haben stressbedingte psychische Probleme.
Erdgas aus Groningen macht die Niederlande reich
Der Grund für all den Ärger liegt 3000 Meter unter der Oberfläche der Provinz Groningen. 1959 bohrten hier Mitarbeiter der Niederländischen Erdölgesellschaft NAM erstmals auf einem Acker nahe der Kleinstadt Slochteren. In den Jahren zuvor waren kleinere Erdgasfelder in den Niederlanden entdeckt worden und so suchten die Konzerne nun nach weiteren Vorkommen. Tatsächlich stießen die NAM-Mitarbeiter auf Erdgas, doch erst in den Jahren danach wurde klar, wie groß das Feld unter der niederländischen Provinz tatsächlich war.
Die genauen Zahlen schwanken, aber zwischen 2100 und 2800 Milliarden Kubikkilometern Gas soll es einst umfasst haben. Damit wäre es das in den Top Ten der größten Erdgasfelder der Erde, auf Augenhöhe mit einigen russischen Vorkommen und nur knapp hinter dem Shtokman-Feld in der Barentssee, aus dem das Gas bisher kam, das durch die Nordstream-Pipelines nach Deutschland geliefert wurde.
Für die Niederlande war die Entdeckung dieses riesigen Vorkommens ein Segen. Der Staat sicherte sich 40 Prozent der Anteile, die anderen 60 Prozent gingen an die NAM-Besitzer Shell und Esso. Zudem wurde die Gesellschaft Gasunie gegründet, deren Besitz sich NAM und der Staat teilten. Sie knüpfte bis 1968 in nur fünf Jahren alle niederländischen Städte über Pipelines an das Gasfeld an. In den 1970er Jahren startete die Förderung so richtig durch. In der Spitze wurden 87,7 Milliarden Kubikmeter aus dem Gasfeld gepumpt – das entspräche in etwa dem heutigen Jahresverbrauch von Deutschland.
Die Niederlande machte das reich: Der Staat sicherte sich zeitweise bis zu 95 Prozent der Profite aus dem Gasgeschäft. Bis 2018 flossen so 417 Milliarden Euro in das Staatssäckel. Das Geld gilt heute als Grundlage des niederländischen Wohlfahrtsstaates.
Experten warnten schon lange vor Schäden wegen gewaltigem Gasfeld
Es dauerte aber nicht lange, bis die ersten Probleme wortwörtlich an die Oberfläche kamen. Schon bei der Diskussion im Parlament 1963 warnte ein Abgeordneter der Provinz Groningen davor, dass durch die Gasförderung in der Tiefe Hohlräume entstünden, die den Boden darüber einsinken lassen könnten. Auch ein Ingenieur warnte öffentlich davor und mahnte an, einen Teil der Gaseinnahmen für die Schadensregulierung aufzubewahren. Eine staatliche Studie, die zu demselben Ergebnis kam, wurde nie veröffentlicht.
Spätestens ab 1985 wurden tatsächlich die ersten Erdbewegungen in der Provinz Groningen verzeichnet, erste Häuser rutschten ab. 1991 wurde das erste Erdbeben aufgezeichnet, das dem Gasfeld zugeordnet werden konnte. Seitdem wurden die Erdstöße immer häufiger und heftiger. Seit dem schwersten Beben von 2012 kippte die öffentliche Debatte. Seit 2014 wird die Gasförderung in Groningen stark gedrosselt. Vergangenes Jahr wurden nur noch 6,5 Milliarden Kubikmeter entnommen. Seit diesem Jahr sollte das Feld eigentlich still stehen und nur noch in Notfällen wie einem besonders kalten Winter, genutzt werden.
Doch der Ukraine-Krieg und die Energiekrise haben die Diskussion um das Gasfeld Groningen neu entfacht. Betreiber Shell sagt, ohne große Investitionen ließe sich die Förderung kurzfristig auf rund 46 Milliarden Kubikmeter pro Jahr steigern. Das wäre genug, um den russischen Lieferstopp fast auszugleichen. Der niederländische Bergbauminister Hans Vijlbrief steht unter Druck, weil auch die EU und manche Mitgliedsstaaten Druck auf die Niederlande ausüben, die Förderung wieder auszubauen. Premierminister Mark Rutte sagte, er wolle das als letzte Maßnahme „im Extremfall, wenn alles andere schiefgeht“ im Hinterkopf behalten.
Förderung in Groningen wird weiter gesenkt
Die Bewohner der Provinz werden das nicht gerne hören. Erst zwei Wochen ist es her, dass die Erde wieder bebte. Mit einer Stärke von 2,8 auf der Richter-Skala wurde die Gegend um das Dorf Uithuizen nahe der Nordseeküste getroffen. Es war das stärkste Beben seit Jahren. Vier weitere, schwächere Beben wurden seit Mitte August aufgezeichnet.
Die Schäden durch die dauernden Erdstöße sind enorm: Eine Studie kam 2015 zu dem Schluss, dass es 27 Jahre dauern und 30 Milliarden Euro kosten würde, um alle Häuser im Erdbebengebiet baulich zu verstärken. Denn selbst wenn die Niederlande heute die komplette Förderung einstellte, würden die Beben nicht aufhören. In manchen Gegenden, etwa bei Dick Kleijer in Loppersum, haben Gerichte die Gasförderung mittlerweile untersagt.
Die niederländische Regierung hat entsprechend die Förderung seit dem 1. Oktober weiter gesenkt. Bis zum Herbst des kommenden Jahres werden nur noch 2,8 Milliarden Kubikmeter gefördert. Diese Mindestmenge soll vor allem dazu dienen, die Anlagen in Schuss zu halten. Bis 2028 ist auf jeden Fall Schluss, die Niederlande will aber versuchen, das Feld schon nächsten Herbst oder – wenn das nicht klappt – im Herbst 2024 zu schließen.
Dabei liegt noch immer viel Erdgas unter Groningens Erde. Je nach Schätzung könnten es zwischen 100 und 800 Milliarden Kubikmeter sein. Im internationalen Vergleich haben nur 12 bis 20 Gasfelder noch höhere Reserven. 12 davon liegen in Russland, wo manche große Felder noch nicht einmal mit der Produktion begonnen haben. An der Spitze steht aber immer noch das South-Pars/North-Dome-Field am Persischen Golf, dessen Reichtum sich Katar und der Iran teilen.