Aufschwung

Der „kranke Mann“ Deutschland gefährdet das europäische Wachstum

19.08.2024
Lesedauer: 4 Minuten
Container werden am Container Terminal Altenwerder (CTA) der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) gelagert und verladen. Bild: Christian Charisius/dpa

Langsam wittert die Wirtschaft zwischen Lissabon und Warschau Morgenluft. Doch noch ist es zu früh, um die Sektkorken knallen zu lassen. Schuld ist vor allem einer: Deutschland.

Wenn eine Wirtschaft in zwei aufeinander folgenden Quartalen schrumpft, wird dies häufig als Rezession gewertet. Die europäischen Politiker werden hoffen, dass zwei aufeinander folgende Wachstumsquartale ebenso bemerkenswert sind. Aus den am 14. August veröffentlichten Daten geht hervor, dass die Wirtschaft der EU im zweiten Quartal dieses Jahres erneut um 0,3 Prozent gegenüber dem Vorquartal gewachsen ist. Nach amerikanischen Maßstäben ist ein solches Wachstum zwar nichts Besonderes, aber nach mehr als einem Jahr der Stagnation doch eine Erleichterung.

Doch damit nicht genug der guten Nachrichten. Die Beschäftigung nimmt zu, wenn auch langsamer als früher. Auch die Löhne steigen schneller als die Inflation, was zu einem höheren Lebensstandard führt. In den Niederlanden, in denen die aktuellsten Arbeitsmarktdaten des Kontinents zur Verfügung stehen, stiegen die zentral ausgehandelten Löhne im Juli um 7 Prozent und damit doppelt so schnell wie die Inflation. Die von den Gewerkschaften ausgehandelten Löhne sind in Deutschland ähnlich hoch. Dennoch war die Europäische Zentralbank (EZB) zuversichtlich genug, um die Zinssätze im Juni zu senken, und es wird erwartet, dass sie dies im September erneut tun wird.

Also volle Fahrt voraus? Nicht ganz. Der Kontinent ist mit einer Reihe von Risiken konfrontiert, von denen jede einzelne geeignet ist, das Bild deutlich zu trüben. Erstens sieht die Nachfrage nicht so gesund aus, wie die Wachstumszahlen vermuten lassen, das zeigt sich auch in der Bauindustrie. Die Mieten steigen in vielen der attraktivsten Städte Europas: Athen, Berlin und Madrid verzeichnen allesamt ein Wachstum von etwa 10 Prozent pro Jahr. Außerdem sinken die Zinssätze, was die Immobilienpreise ankurbeln dürfte. Dennoch ist das Vertrauen der Bauherren derzeit so niedrig wie noch nie in diesem Jahr, und die Gründe dafür sind nicht sofort ersichtlich.

Einkommenszuwächse müssten auch den Konsum ankurbeln. In der Realität ist jedoch noch „keine nennenswerte Belebung der realen Inlandsnachfrage zu erkennen“, stellt Clemente De Lucia von der Deutschen Bank fest. Er fügt hinzu, dass die Haushalte das zusätzliche Geld aus den höheren Gehältern hauptsächlich auf ihre Sparkonten legen. Mit der Zeit könnte eine Abkühlung auf dem Arbeitsmarkt die Kauflust weiter verringern. Wie Davide Oneglia von TS Lombard, einem Beratungsunternehmen, feststellt, ist die Zahl der Neueinstellungen im Dienstleistungssektor, der in den letzten Jahren die Hauptquelle für Beschäftigung war, zurückgegangen.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Regierungen die Nachfrage mit zusätzlichen eigenen Ausgaben stützen werden. Die deutsche Regierung hat sich wieder einmal fast über die rechtlichen Feinheiten ihrer Vorschriften für einen ausgeglichenen Haushalt zerstritten. Die Verhandlungen laufen noch, aber das Ergebnis werden wahrscheinlich Ausgabenkürzungen sein. Frankreich und Italien befinden sich in einem „Verfahren bei übermäßigem Defizit“, das die Europäische Kommission für die eklatantesten Verstöße gegen ihre Leitlinien vorsieht. Die Finanzpolitik wird also in den kommenden Jahren das Wachstum ausbremsen.

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Die nächste Herausforderung betrifft lediglich ein einziges Land: Deutschland. Die Wirtschaft des Landes ist seit 2019 kaum noch gewachsen. Zuletzt sind die Ausfuhren im Juni im Vergleich zum Vorjahr nominal um 4,4 Prozent gesunken, und Umfragen deuten darauf hin, dass noch Schlimmeres bevorsteht. Industrieunternehmen, die es versäumt haben, sich zu modernisieren, sehen sich nun einer größeren Konkurrenz aus China gegenüber, da dort kostengünstige Elektrofahrzeuge aus den Fabriken strömen. Auch die langfristigen Aussichten Deutschlands sind besorgniserregend: Außer Litauen wird kein anderes Land in der OECD mehr Arbeitskräfte durch Verrentung verlieren, als neu in die Erwerbsbevölkerung eintreten. Das Land ist groß genug, dass seine wirtschaftlichen Probleme auch das Wachstum in Europa beeinträchtigen werden.

Die Handelspartner des Kontinents werden nicht zur Rettung kommen. Die amerikanische Nachfrage ist zwar beneidenswert, beginnt aber zu schwächeln, und Chinas Wirtschaft steckt in einem Schlamassel, dem die Behörden mit Produktionshilfen beikommen wollen. Sollte Donald Trump gewählt werden, werden Handelskriege – sowohl transatlantische als auch zwischen Amerika und China – die Situation noch verschlimmern. Die Auseinandersetzung zwischen Europa und China ist bereits im Gange, denn das Land bereitet sich darauf vor, die EU wegen der Erhöhung der Zölle auf Elektroautos bei der Welthandelsorganisation zu verklagen.

Im Moment scheint Europa eine sanfte Landung hinzulegen, auch wenn seine Wirtschaft nie wirklich in die Höhe geschossen ist. Die Inflation ist auf 2,5 Prozent gesunken und liegt damit knapp über dem Zielwert der EZB, und der Kontinent hat zwei aufeinander folgende Quartale mit Wachstum hinter sich. Die politischen Entscheidungsträger der Eurozone wären jedoch gut beraten, sich davon nicht zu sehr beglücken zu lassen. Bevor die Feier beginnen kann, müssen erst noch viele Gefahren überwunden werden.

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Dieser Artikel entstammt der Seite Economist.com. Er wurde übersetzt von Sebastian Schug und unter Lizenz publiziert. Der Originalartikel auf Englisch ist hier zu finden: Europe’s economic growth is extremely fragile

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