Der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums moniert in einem Gutachten eklatante Rückstände bei der Digitalisierung – und setzt auf einen neuen Staatsvertrag.
Berlin Wie sehr Deutschland bei der Digitalisierung hinterherhinkt, ist besonders eindrucksvoll in den Gesundheitsämtern zu besichtigen. In keinem anderen Bereich werde noch so viel gefaxt wie im Gesundheitswesen, spottete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zu Beginn seiner Amtszeit. Seit dem Ausbruch der Coronakrise ist Spahn nicht mehr zu solchen Scherzen aufgelegt.
Denn in der Pandemie geht in den Gesundheitsämtern viel Zeit verloren, weil die meisten Ämter immer noch mit handgeschriebenen Listen und ausgedruckten Excel-Tabellen arbeiten, Daten auf Papier per Fax übermittelt und anschließend händisch in den Computer eingetippt werden. Es geht Zeit verloren, die Menschenleben kosten kann.
Die Gesundheitsämter sind jedoch nur ein Beispiel für die lahmende Digitalisierung. Wie groß der Handlungsbedarf besonders in Verwaltung und in den Schulen ist, zeigt ein neues Gutachten mit dem Titel „Digitalisierung in Deutschland – Lehren aus der Coronakrise“des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums, das an diesem Dienstag veröffentlicht wird und dem Handelsblatt vorab vorliegt.
„Verschiedene Formen von Organisationsversagen“
„Deutschland leistet sich in der öffentlichen Verwaltung Strukturen, Prozesse und Denkweisen, die teilweise archaisch anmuten“, heißt es darin in ungeschminkten Worten. Es komme zu „verschiedenen Formen von Organisationsversagen“.
Zwar habe es in der Coronakrise Fortschritte gegeben, etwa bei der digitalen Kommunikation und der Nutzung digitaler Prozesse durch die Umstellung auf das Homeoffice. „In anderen Bereichen, so im Schul- und Gesundheitswesen, gelang dies nur mühsam oder so gut wie gar nicht“, sagt Ökonom Klaus Schmidt, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats. Und vieles von dem, was während der Corona-Pandemie in kurzer Zeit umgesetzt wurde, hätte auch schon lange vor der Krise unternommen werden können.
Oft mangele es nicht an der finanziellen Ausstattung, vielmehr fehle „eine klarere Zuweisung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten“, kritisieren die Experten in ihrem Gutachten. Als Beispiel verweisen sie auf den Digitalpakt Schule, bei dem bislang nur ein Bruchteil der zur Verfügung stehenden Bundesmittel bei den Schulen angekommen ist.
Um Abhilfe zu schaffen, setzen die Berater von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) auf einen verbindlichen Staatsvertrag zwischen den Bundesländern, der klare Maßgaben zu einer Vereinfachung der Verwaltungsabläufe enthalte.
Privatwirtschaft als Vorbild
Dietmar Harhoff, Direktor am Münchener Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb und einer der Studienautoren, fordert zudem eine Art Generalinventur der deutschen Verwaltung: „Die in der Krise getroffenen, oft befristeten Entscheidungen zugunsten einer Flexibilisierung von Abläufen sollten von der Politik, aber auch von Verwaltungs- und Behördenleitungen in den kommenden Monaten auf den Prüfstand gestellt werden. Einen automatischen Rückschritt zu den vor der Krise üblichen bürokratischen Vorgaben und Vorgehensweisen darf es nicht geben.“
Nötig sei aber auch ganz grundsätzlich eine klare Führung, die die Dringlichkeit der digitalen Transformation in Ministerien, Schulen oder Gerichten vermittele. Es gelte, in der öffentlichen Verwaltung Managementansätze aus der Privatwirtschaft wie Teamarbeit und agiles Management schneller als bisher zu integrieren.
„Vor allem sollte der Staat aber die lange überfällige digitale Transformation der eigenen Dienstleistungen zügig umsetzen und die öffentlichen Verwaltungen konsequent digitalisieren“, sagt Beiratsmitglied und Studienautor Stefan Bechtold.
Markige Ankündigungen der Politik hat es auch hier viele gegeben. So versprach Wirtschaftsminister Altmaier im Wahlkampf 2017, Deutschland werde bis 2021 führend beim E-Government in Europa sein. Vier Jahre später ist Deutschland davon weit entfernt. Und auch in der Coronakrise halten viele Bürger die Digitalpolitik für unzureichend.
Um bei der Digitalisierung voranzukommen, müsse sich allerdings auch beim Datenschutzrecht etwas tun, schreibt der Beirat. In der öffentlichen Diskussion werde der Datenschutz mitunter „als absoluter Wert wahrgenommen, der unter keinen Umständen aufgeweicht werden dürfe“, schreiben die Experten. Aber auch Grundrechte unterlägen Abwägungsprozessen, inwieweit sie mit anderen Interessen wie einer effektiven Pandemiebekämpfung vereinbar seien.
Zudem zeige „die tägliche Erfahrung im Internet, wie nutzlos es ist, das Datenschutzrecht nach dem Primat der Einwilligung des Betroffenen auszugestalten“. Internetnutzer müssten derart häufig dem Setzen von Cookies zustimmen, dass sie die Umstände und Reichweite der einzelnen Zustimmungen schwerlich überblicken könnten.
Auch die Datenschutz-Richtlinien der Anbieter würden wenig oder gar nicht gelesen. Der Beirat rät daher, im deutschen und europäischen Datenschutzrecht stärker auf andere Regulierungskonzepte wie Datentreuhänder, Optionsregelungen im Browser oder regulierte Datenräume zu setzen.
Daneben empfiehlt der Beirat eine zielgerichtete staatliche Förderung der digitalen Kommunikationsinfrastruktur. Mit „Gigabit-Gutscheinen“ ließe sich beispielsweise der Internetzugang zu hochwertigen Breitbandanschlüssen für kleine und mittlere Unternehmen und für Haushalte mit schulpflichtigen Kindern verbessern.