Der Milliardär Abramowitsch half Wladimir Putin, in den Kreml zu gelangen. Heute lebt er im Ausland und hält Distanz. Doch er kann der Geschichte nicht entkommen – seiner eigenen und nicht der seiner Familie.
«Sie müssen aufhören, mir diese Fragen zu stellen! Ich habe keine Antworten.» Sichtlich erregt lehnte es Thomas Tuchel Anfang dieser Woche ab, sich über den russischen Magnaten Roman Abramowitsch zu äussern. Der Trainer des FC Chelsea wollte auf einer Pressekonferenz nicht über den Eigentümer des FC Chelsea sprechen. Er sei kein Politiker, und er habe auch nie Krieg erlebt, verteidigte sich Tuchel.
Doch Roman Abramowitsch ist nicht nur Milliardär, er war auch einmal Politiker, und seine Familie hat Krieg und Vertreibung erlebt. Abramowitsch hat inzwischen eine Antwort gefunden: Er will den FC Chelsea verkaufen, wie er am Mittwochabend mitteilte. Der Druck aus der britischen Politik war in den vergangenen Tagen ins schier Unermessliche gewachsen.
Das Gesicht der Oligarchen
Abramowitsch ist nicht nur einer der reichsten Russen, er stand auch in sehr enger Beziehung zum Kremlchef Wladimir Putin. Kaum einer der russischen Tycoons ist in der Öffentlichkeit so exponiert wie er, auch wegen des FC Chelsea. Er ist das Gesicht der sogenannten Oligarchen, zumindest in Grossbritannien. Seit Putins Invasion in der Ukraine kommt sein Name nicht mehr aus den Schlagzeilen und fällt regelmässig in den Parlamentsdebatten.
In der gegenwärtigen Situation sei der Verkauf das Beste für den Fussballklub, so Abramowitsch. «Das war ein unglaublich schwieriger Entscheid für mich, und es schmerzt, den Klub auf diese Weise zu verlassen.» Der Nettoerlös solle in eine neue Stiftung zugunsten der Opfer des Kriegs in der Ukraine fliessen – für die Soforthilfe und den Wiederaufbau, teilt der 55-Jährige mit. Die Wirtschaftsprüfer von KPMG schätzen den Wert des Teams auf rund 1,9 Milliarden Euro.
Abramowitsch ist in politisches Sperrfeuer geraten. Noch steht er nicht auf der britischen Sanktionsliste gegen einflussreiche Russen, doch die soll ausgeweitet werden. Selbst die Konfiszierung von Vermögenswerten sei möglich, heisst es. «Warum um alles in der Welt ist er noch nicht mit Sanktionen belegt worden?», fragte am Mittwoch der Oppositionsführer Keir Starmer.
Raus aus der Schusslinie
Der Milliardär versucht seit Tagen, aus der Schusslinie zu kommen. Am Samstagabend teilte er mit, er übertrage den Treuhändern der wohltätigen Chelsea-Stiftung «die Verwaltung und die Fürsorge» für den Klub. Rechtlich haben diese Begriffe keine Bedeutung, wie Juristen anmerkten. An den Eigentums- und Kontrollverhältnissen des FC Chelsea änderte sich nichts.
Es ist verständlich, dass Roman Abramowitsch nur schwer loslassen konnte. Seit er den Fussballklub aus Westlondon im Jahr 2003 für 140 Millionen Pfund erwarb, investierte er stark in Spieler und Trainer. Das Geld machte Chelsea sehr erfolgreich: Der Verein gewann fünf Mal die Premier League, zwei Mal die Champions League und brach die Dominanz von Arsenal, Liverpool und Manchester United.
Rund 1,5 Milliarden Pfund (1,8 Milliarden Franken) an Kreditrückzahlungen soll der Klub dem Eigentümer schulden. Abramowitsch erklärte, er wolle die Verbindlichkeiten bei dem Verkauf erlassen. Vielleicht ist es ein akzeptabler Preis, wenn er dadurch sein vom Magazin «Forbes» auf 12 Milliarden Dollar geschätztes Vermögen vor Sanktionen retten kann.
Vom Krieg gezeichnete Familie
Doch es wäre hart, Abramowitsch zu unterstellen, dass er beim Blick auf den Krieg in der Ukraine nur von Sorge um seine Geschäfte erfasst werde. Dafür müsste er seine Herkunft verleugnen. Die Familie seiner Mutter stammt aus der Ukraine, von wo sie im Zweiten Weltkrieg nach Litauen floh. Als der sowjetische Geheimdienst vor Kriegsende Hunderttausende Menschen hinrichten und deportieren liess, wurden Abramowitschs Eltern und Grosseltern nach Sibirien verschleppt. Ein Grossvater starb im Gulag. Die Familie ist jüdisch.
Roman Abramowitsch kam im Jahr 1966 in Saratow an der Wolga zur Welt. Beide Eltern starben früh. Seine Familiengeschichte ist typisch für Schicksale, die in die Mühlen des Sowjetsystems gerieten. Doch Abramowitschs persönliche Geschichte ist alles andere als typisch: Der studierte Ingenieur freundete sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem zwanzig Jahre älteren Magnaten Boris Beresowski an. Zusammen bauten sie während der umstrittenen und undurchsichtigen Privatisierungen ein Firmenimperium auf, von Erdöl bis Aluminium.
Geld war im Russland der neunziger Jahre sehr wertvolles politisches Kapital. Sowohl der russische Staat als auch Präsident Boris Jelzin hatten zu wenig davon. Beresowski unterstützte 1996 massgeblich Jelzins Wiederwahl und wurde als «graue Eminenz» des Kremls bezeichnet. Auch Abramowitsch gewann Einfluss im Zentrum der Macht.
Jelzin soll Wladimir Putin im Jahr 1999 auch nach Abramowitschs Fürsprache als Nachfolger auserwählt haben. Der Milliardär spielte eine wichtige Rolle bei der Zusammenstellung der neuen Regierung. Es gab eine Zeit, da war Putin der Hoffnungsträger der Reformer. Abramowitsch und der vierzehn Jahre ältere Putin pflegten ein enges Verhältnis; manche Beobachter sahen in jener Zeit eine Vater-Sohn-Beziehung wachsen.
Putin übernimmt die Macht
Da hatte sich Beresowski bereits mit Putin überworfen. Im Jahr 2003 erhielt er als politischer Flüchtling Asyl in London und schoss fortan scharf gegen den Kremlchef, zumindest verbal. In Russland brach Putin derweil die politische Macht der Oligarchen und degradierte sie zu Magnaten von seinen Gnaden. Abramowitsch wurde nicht zum offenen Ziel, aber er reduzierte seine Industriebeteiligungen und verkaufte seine Anteile am Erdölkonzern Sibneft, am Aluminiumproduzenten Rusal und an der Fluggesellschaft Aeroflot.
Anders als Beresowski hielt er Putin die Treue und suchte nicht die Konfrontation. Von 2000 bis 2008 war er Gouverneur von Tschukotka, der nordöstlichsten und vielleicht am meisten vernachlässigten Ecke Russlands, und soll mehr als 1 Milliarde Dollar aus der eigenen Tasche in die Region an der Beringstrasse investiert haben.
Abramowitsch verkaufte nicht alles. Heute ist er der grösste Aktionär des Stahl- und Bergbaukonzerns Evraz, dessen Zentrale in London angesiedelt ist. Auch er selbst liess sich in London nieder, wo ihm mehrere Immobilien gehören – darunter ein Anwesen mit fünfzehn Schlafzimmern im edlen Stadtteil Kensington. Am anderen Ende der Strasse liegt die russische Botschaft. Die Immobilien wolle der Milliardär nun verkaufen, behauptete ein britischer Abgeordneter. Medien berichten von Malerarbeiten in der Kensington-Villa. Auch Abramowitschs Liebe zu grossen Jachten ist bekannt. Eine soll er Wladimir Putin geschenkt haben.
Ein merkwürdiger Selbstmord
Überworfen hatte sich der Milliardär hingegen mit seinem ehemaligen Freund und Mentor Beresowski. 2011 zog Beresowski vor ein Londoner Gericht, um Schadenersatz in Milliardenhöhe zu fordern. Es ging um frühere Eigentumsverhältnisse beim Erdölkonzern Sibneft, und das Verfahren wurde einer der grössten Zivilfälle der britischen Rechtsgeschichte.
Abramowitsch gewann. Beresowski, der weiterhin im Streit mit dem Kreml lag, wurde 2013 tot in seinem Badezimmer gefunden. Der Befund lautete Selbstmord durch Erhängen, als möglicher Grund gelten die Schulden nach dem Gerichtsprozess. Doch es blieben offene Fragen, auch aus medizinischer Sicht. Der Kreml behauptete, Beresowski habe zuvor noch einen Entschuldigungsbrief an Putin verfasst. Angeblich soll Abramowitsch ihn Putin überbracht haben.
Abramowitsch möchte das Schicksal Beresowskis nicht teilen. Er entschied sich für einen Balanceakt. Er hielt sich bedeckt, brach nie mit Putin, aber verteidigte ihn auch nicht öffentlich. Er hielt sich lieber im Ausland auf als in Russland. Die Journalistin Catherine Belton schrieb in ihrem Buch «Putin’s People», der Milliardär habe Chelsea auf Geheiss Putins gekauft. Abramowitsch prozessierte dagegen, Belton musste ihr Buch im vergangenen Jahr korrigieren.
Der Wohnsitz ist schon weg
Für Abramowitsch ist es wichtig, nicht zu sehr mit Putin in Verbindung gebracht zu werden. Was nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 begann, wurde 2018 noch verstärkt, als der russische Geheimdienst seinen ehemaligen Agenten Sergei Skripal in England mit dem Kampfstoff Nowitschok vergiftete. Abramowitsch geriet in die Diskussion, die Verlängerung seines Visums wurde bezweifelt. Der Magnat gab freiwillig den Wohnsitz in London auf.
Stattdessen nahm er die israelische Staatsbürgerschaft an, was ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft möglich war, und liess sich in Israel nieder. Der Pass ermöglicht es ihm, sich bis zu 180 Tage im Jahr in Grossbritannien aufzuhalten. Vergangenes Jahr erhielt er dank seinen jüdischen Wurzeln auch den portugiesischen Pass und besitzt damit drei Staatsbürgerschaften. Sein Antrag, eine Aufenthaltsbewilligung in Verbier im Wallis zu erhalten, stiess im Jahr 2016 auf Widerstand der Behörden. Abramowitsch zog den Antrag zurück. Nur kein Aufsehen erregen.
«Ich hoffe, dass ich noch ein letztes Mal Stamford Bridge (Anm.: das Stadion des FC Chelsea) besuchen kann, um mich persönlich zu verabschieden», schreibt Abramowitsch in seiner Verkaufsankündigung. Als er im vergangenen November den Match gegen Manchester United schaute, war es sein erster Stadionbesuch seit drei Jahren. Bald könnten andere an seinen Platz treten. Der Schweizer Milliardär Hansjörg Wyss erklärte im «Blick» bereits Interesse. Abramowitsch sagt, der Verkauf solle nicht überstürzt werden.
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