Es ist das erste Interview, das Russlands Präsident seit der Invasion in der Ukraine einem westlichen Medienvertreter gibt. Der Kremlchef wirkt darin ungewohnt umgänglich. Steht das für eine echte Dialogbereitschaft, wie Putin behauptet? Oder steckt kühle Strategie dahinter?
Moskau. War es mal wieder bloße Propaganda, was Wladimir Putin dem früheren Fox-News-Moderator Tucker Carlson im ersten Interview sagte, das er einem – höchst umstrittenen – Medienvertreter aus dem Westen seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine am 24. Februar 2022 gab? Elemente der Desinformation enthielten die Aussagen des russischen Präsidenten in jedem Fall. Erneut gab er seine Version der Gründe für Russlands Invasion ins Nachbarland zum Besten. So soll die Aggression, die zu dem Konflikt führte, nach Putins Lesart im Jahr 2014 allein vom Westen ausgegangen sein.
So weit, so erwartbar: Unterstützt von der CIA hätten oppositionelle Kräfte der Ukraine den prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch im Februar 2014 gewaltsam aus dem Amt geputscht. Obwohl es vorher eine Vereinbarung gegeben habe, den heftigen Streit zwischen dem ukrainischen Staatsoberhaupt und der protestierenden Euromaidan-Bewegung geregelt und friedlich zu lösen. Die Einhaltung dieses Übereinkommens sei damals von Deutschland, Frankreich und Polen garantiert worden, betonte Putin gegenüber Carlson. „Doch als die Opposition einen Putsch organisierte, haben diese drei Länder vorgegeben, sie hätten vergessen, Garantiegeber dieser Abmachung zu sein. Sie haben sie einfach in den Ofen geschmissen, und daran erinnert sich heute niemand mehr“, empörte sich der Kremlchef.
Die Ukraine habe dann einen Krieg im Donbass begonnen, mit dem Einsatz von Luftwaffe und Artillerie gegen die russischstämmigen Teile der Zivilbevölkerung dort. Und als ob das nicht schon alles sehr viel Grund zur Beunruhigung geliefert habe, sei die Ukraine noch aufgerüstet worden – und die Nato habe ihre Türen für sie geöffnet. „Wie hätten wir in der Situation unsere Bedenken nicht zum Ausdruck bringen können?“, fragte Putin. „Das wäre fahrlässige Unterlassung gewesen.“
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„Wir sind zum Dialog bereit“
Diese Interpretation der damaligen Ereignisse ist freilich arg einseitig und wird durch Putins ständige Wiederholung nicht richtiger. Inzwischen liegen Belege dafür vor, dass Janukowytsch seine Flucht aus der Ukraine im Februar 2014 schon vor der Unterzeichnung des Abkommens vorbereitet hatte. Und es war Russland, das den Konflikt im Donbass durch die militärische Unterstützung von ukrainischen Separatisten so weit eskalieren ließ, dass dieser sich zu einem Krieg auswuchs.
Trotzdem ging der Erkenntniswert des Interviews möglicherweise über reine Propaganda hinaus. Denn deutlicher, als er es üblicherweise tut, ließ der Kremlchef gegenüber dem politisch weit rechts angesiedelten Carlson durchblicken, wie er sich ein Ende der russischen Invasion in der Ukraine vorstellen könnte: nicht durch einen militärischen Sieg, sondern durch eine Vereinbarung mit dem Westen.
Gegen Ende des Interviews sagte Putin zu Carlson, dass die Zeit für Gespräche über die Beendigung des Krieges gekommen sei – weil „diejenigen, die im Westen an der Macht sind, erkannt haben“, dass Russland nicht auf dem Schlachtfeld besiegt werden könne. „Wenn das so ist, wenn die Einsicht eingesetzt hat, dann müssen sie sich überlegen, was sie als Nächstes tun wollen. Wir sind zu diesem Dialog bereit“, beteuerte der Kremlchef.
Westlicher Weg „nichts Schlechtes“
Auf Carlsons Frage, ob die Nato die russische Kontrolle über Teile der Ukraine akzeptieren könne, meinte Putin: „Sollen sie doch darüber nachdenken, wie sie es machen: Lassen Sie sie darüber entscheiden, wie sie das mit Würde tun können. Es gibt Optionen, wenn der Wille vorhanden ist.“
Im ganzen Tonfall gab sich der russische Präsident während des Gespräches ungewöhnlich moderat – kein Vergleich zu der scharfen Rhetorik, mit der er sich etwa am Tag des Einmarsches in einer Fernsehansprache an sein Volk gewandt hatte. Als Carlson ihm die Gelegenheit gab, Russland als Verteidiger „traditioneller Werte“ gegen den aus Putins Sicht degenerierten und untergehenden Westen darzustellen, antwortete der russische Präsident zurückhaltender, als er es üblicherweise tut: „Die westliche Gesellschaft ist eher pragmatisch. Die Russen denken mehr an das Ewige, an moralische Werte.“
Und er fügte hinzu, dass der westliche Weg „nichts Schlechtes“ an sich habe und dass er zu „guten Erfolgen in der Produktion und in der Wissenschaft“ geführt habe.
Bleibt allerdings die Frage, ob hinter dem ungewöhnliche Kuschelkurs nicht doch ein Propagandakniff steckt. Putins Kalkül könnte allein darin bestehen, jene Fraktion im Westen zu protegieren, die sich für Verhandlungen ausspricht. Denn ihr Zwist mit den Befürwortern von Waffenlieferungen ließe sich so wohl leicht vertiefen.