Israel sei für woke Aktivisten das Zentrum des Bösen, sagt der französische Philosoph Alain Finkielkraut. Deren Ideologie sei hartnäckiger als der Kommunismus, denn sie verbinde sich mit dem Islamismus.
Herr Finkielkraut, Sie haben die woke Ideologie an den amerikanischen Universitäten schon früh kritisiert. Gelegentlich hielt ich Ihre Warnungen für übertrieben. Nach dem 7. Oktober und den Pro-Hamas-Demonstrationen an verschiedenen Unis dachte ich: Er hatte recht. Was ging Ihnen durch den Kopf?
Ich war schockiert. Ich war fassungslos. Ich war überwältigt. Sagen wir, um den französischen Autor Jean Racine zu paraphrasieren: Mein Unglück übertraf meine Hoffnung.
Was war anders?
Nach dem Massaker vom 7. Oktober scheint es, als sei der Antisemitismus das höchste Stadium des Wokeismus. Der Wokeismus reduziert die Komplexität menschlicher Konstellationen gnadenlos auf die Konfrontation von Herrschern und Beherrschten, Unterdrückern und Unterdrückten. Israel wird durch diese Ideologie in das Lager der Unterdrücker gestellt. Das geht so weit, dass der Staat völlig delegitimiert wird. Amerikanische Studentenkollektive beschreiben Israel von den Anfängen bis heute als koloniales Unternehmen. Das Recht der Juden auf dieses Land wird bestritten. Es wird so getan, als hätten sie sich dort, in Palästina, niedergelassen wie die Deutschen in Namibia oder die Franzosen in Algerien. Daher auch das Aufblühen des Slogans «From the river to the sea, Palestine will be free».
Der Fluss ist der Jordan, das Meer ist das Mittelmeer – dort soll kein Platz mehr sein für Juden.
Ja. Es war für mich ein schmerzhafter Anblick zu sehen, wie amerikanische Studenten ruhig und gelassen Fotos von israelischen Geiseln abgerissen haben. Diese Geiseln sind in ihren Augen Siedler, und der Siedler verdient es nicht, zu leben. Das macht Angst, denn diese Ideologie prägt die Elite oder die zukünftige Elite. Wokeismus ist die Installation des Hasses auf den Westen im Herzen des Westens. Und Israel ist in dieser Perspektive das Zentrum, das alle Verbrechen, alle Schandtaten, alle Greuel des Westens bündelt.
Wie einflussreich ist diese Ideologie ausserhalb der Universitäten, wie prägend ist sie für die westliche Gesellschaft?
Ich glaube, dass ein grosser Teil unserer Gesellschaft unempfindlich ist gegenüber der Woke-Ideologie und ihr sogar feindlich gesinnt ist. Völlig isoliert ist der Wokeismus aber nicht, in Frankreich sind einige politische Bewegungen davon geprägt. Die Partei von Jean-Luc Mélenchon, La France insoumise, ist sehr explizit zu einer antisemitischen Bewegung geworden. Aus klientelistischen Gründen, denn das Vordringen des Wokeismus geht zumindest in Europa mit dem demografischen Wandel einher. La France insoumise orientiert sich in ihren Positionen an denen der Hamas, denn sie setzt auf die muslimische Wählerschaft. Eine grosse Mehrheit der Muslime, die gewählt haben, hat bei den letzten Präsidentschaftswahlen für Jean-Luc Mélenchon gestimmt. Dies ist auch seinen rachsüchtigen und giftigen Äusserungen gegenüber Israel und den Juden zu verdanken.
Wie schätzen Sie Macrons Israel-Politik ein, und wie sehr hat auch er die Befindlichkeiten der muslimischen Wähler im Blick?
Der Präsident der Republik freute sich, dass im November ein vereintes Frankreich gegen den Antisemitismus marschierte. Und dann hat er beschlossen, nicht an diesem Marsch teilzunehmen, um die Einheit des Landes zu wahren. Mit dieser akrobatischen Einlage hat er bewiesen, dass er nicht mehr der Präsident der vereinten und unteilbaren Französischen Republik ist. Er ist lediglich der geschäftige Manager des französischen Mosaiks.
Macron hat sich auch gegen die Bombardierung des Gazastreifens ausgesprochen, gleichzeitig forderte er eine internationale Koalition gegen die Hamas.
Macron ist ein Künstler der Gleichzeitigkeit.
Sie selbst waren einmal Maoist.
Ein paar Wochen.
Immerhin, können Sie die radikalisierten Studenten mit Blick auf Ihre eigene Biografie verstehen, sind sie mit den kommunistischen Studenten der sechziger und siebziger Jahre vergleichbar?
Das ist nicht das Gleiche. Der Wokeismus ist die totale Infragestellung der westlichen Kultur. Es ist ein misstrauischer und sogar anklagender Blick auf unser gesamtes Erbe. Die Lieblingsbeschäftigung des Wokeismus ist es, in Form eines Tribunals über die Vergangenheit zu richten, die rassistisch, sexistisch, homophob und so weiter war. Eine absolute Sensibilität bekämpft alle Formen der Stigmatisierung. Die kommunistische Ideologie wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Realität konfrontiert: in Form der Sowjetunion und des maoistischen Regimes in China. Für die Woken gibt es diesen Realitätscheck nicht. Hinzu kommt, dass der Wokeismus mit einem demografischen Wandel in unserer Gesellschaft einhergeht. Er verbindet sich mit dem Islamismus. Aus diesem Grund wird es vielleicht schwieriger, diese Ideologie abzuschütteln.
In Ihrem Buch «Ich schweige nicht» schreiben Sie, die westliche Zivilisation sei vom Antirassismus so besessen, dass sie nur noch an ihrer Selbstauflösung arbeite: «Der Wunsch, in einem realen Dasein zu überleben, wandelt sich in einen Willen, nichts zu sein, um nie wieder auszugrenzen, niemanden mehr zu misshandeln.»
Ja, es ist wie ein Todeskult. Octavio Paz hat beschrieben, wie wir die grosse kritische Tradition, die unsere Gesellschaften in einem ständigen Dialog mit sich selbst gehalten hat, pervertiert haben. Wir haben sie pervertiert, indem wir sie in den Dienst des Hasses auf uns selbst und unsere Welt gestellt haben. Das ist umso besorgniserregender, als der Westen heute furchtbare Feinde hat. Es ist gut, dass der Westen nicht nur Überzeugungen, sondern auch Zweifel hat. Aber mit Selbstverleugnung können wir unseren Feinden nicht entgegentreten.
Die Feinde erscheinen gerade in Form von Imperialismus und Islamismus. Ist der Westen auf lange Sicht widerstandsfähig genug?
Sagen wir es so: Europa hat es geschafft, sich trotz allem gegen die russische Aggression in der Ukraine zu mobilisieren, was selbst Putin überrascht hat. In dieser Hinsicht hat der Westen standgehalten. Aber wird das so bleiben? Ich weiss es nicht.
Das einzelne Leben ist im Westen viel wert. Russland hingegen verheizt Zehntausende Soldaten in der Ukraine, die Hamas schert sich ebenfalls nicht um eigene Opfer und instrumentalisiert Zivilisten gezielt. Ist die Bereitschaft, Menschen zu opfern, auf lange Sicht ein Vorteil gegen einen postheroischen Westen?
Ich glaube, dass die Hamas die israelische Reaktion unterschätzt hat. Die Hamas glaubte, durch ihre Geiseln geschützt zu sein, und rechnete nicht mit einer so verheerenden Bodeninvasion. Doch tatsächlich kümmert sich die Hamas nicht um ihre eigene Bevölkerung. Sie wird absichtlich in Gefahr gebracht, weil die Hamas von toten Zivilisten profitiert. Sie positioniert ihre Waffen, ihre Abschussrampen, ihre Munitionsvorräte in Schulen, Kindergärten und Spitälern. Das macht die Aufgabe der israelischen Armee umso komplizierter. Die Hamas konfisziert einen Grossteil der humanitären Hilfe für ihre Kämpfer, sie hat immense Geldsummen abgezweigt, um ihre Tunnel zu bauen. Und die Anführer der Hamas selbst sind extrem reich – seltsamerweise nimmt aber niemand Anstoss daran. Die humanitären Organisationen, die heute gegen Israel hetzen, verlieren kein Wort, um das Verhalten der Hamas anzuprangern.
Wie erklären Sie sich das?
Der Westen lässt sich von woken Slogans wie «Gaza ist ein Gefängnis unter freiem Himmel» blenden. Mit dieser Phrase hört man auf, darüber nachzudenken, was die Hamas aus Gaza hätte machen können. In Gaza gibt es keine israelische Siedlung mehr, Katar schickt Geld, Israel hat die Zahl der Arbeitsgenehmigungen für Palästinenser erhöht. Die Hamas hat aus allem dem nichts gemacht, nur Hass produziert.
Woher rührt das immense Interesse der arabischen Welt an diesem Konflikt und gleichzeitig die seltsame Tatenlosigkeit und das Fehlen von Solidarität der arabischen Länder?
Israel ist ein bequemer Sündenbock. Es lenkt die arabischen Völker von ihren inneren Problemen ab, von der Korruption, dem Elend, dem religiösen Extremismus, der Unfreiheit. Die arabischen Völker haben eine pathologische Fokussierung auf Israel.
Israel wird als Imperium wahrgenommen.
Ja, und dies, obwohl sich Israel aus dem Sinai zurückgezogen hat und auch aus Libanon und aus Gaza. Als Belohnung für den Rückzug aus Libanon bekam es Israel mit dem Hizbullah zu tun, als Belohnung für den Rückzug aus Gaza gibt es die Hamas.
Hat sich mit dem Massaker vom 7. Oktober 2023 in Israel etwas Grundlegendes verändert, oder hat sich der bestehende Konflikt lediglich verschärft?
Es hat sich viel verändert. Israel war ein Zufluchtsort für die Juden. Es war das Land, in dem keine Pogrome stattfinden. Und nun hat sich ein schreckliches Pogrom innerhalb der Grenzen Israels ereignet. Schon vor einigen Jahren schrieb David Grossman, der israelische Schriftsteller, dass Israel es tragischerweise nicht geschafft habe, die Juden von ihrer Wunde zu heilen – dem bitteren Gefühl, sich in der Welt nie zu Hause zu fühlen. Wo ist das Zuhause? Nicht einmal in Israel. Das haben sich die Israeli gesagt und auch viele Juden weltweit. Denn nach dem Massaker vom 7. Oktober häuften sich die antisemitischen Vorfälle, und in London, Berlin und Madrid kam es zu riesigen Anti-Israel-Demonstrationen.
Es gab ein kurzes Fenster der Solidarität mit Israel. Spätestens seit die Armee aber die Bodenoffensive in Gaza gestartet hat, ist diese weg.
Ja, das ist zu Ende. Mittlerweile überwiegt die Kritik am Vorgehen der israelischen Armee. Selbst der 7. Oktober wird wie der Eintrag in einer Buchhaltung behandelt. Es gab 1200 Tote und einige tausend Verletzte, während die israelischen Bombardements und Angriffe in Gaza viele, vielleicht 19 000 Tote gefordert haben. Viele Menschen verstehen nicht mehr, was Krieg ist. Sie wollen von der tödlichen Taktik der Hamas nichts mehr hören.
Sie haben einmal über das «Heimweh im eigenen Land» geschrieben. Spüren Sie das auch?
Frankreich verändert sich schnell und dramatisch. Wenn es so weitergeht, wird das Land eines Tages nicht mehr wiederzuerkennen sein. Die Katastrophe sei, wenn die Dinge ihren Lauf nähmen, befand Walter Benjamin. Neulich stand ich vor meinem Haus, und ein Mann kam ganz nah an mein Ohr und schrie: «Fahr zur Hölle, fahr zur Hölle!» Er wiederholte die Drohung, aber er ging, zum Glück. Es sieht so aus, als ob die Dinge ihren Lauf nehmen. Deshalb empfinde ich diese Angst, dieses seltsame Heimweh.
ben. · Alain Finkielkraut (74) ist Philosoph und eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen Frankreichs. Bis 2014 war er Professor für Ideengeschichte an der École polytechnique in Paris. Im selben Jahr wurde er als Mitglied in die französische Gelehrtengesellschaft Académie française gewählt. Sein Vater, ein polnisch-jüdischer Lederwarenhändler, überlebte das KZ Auschwitz. Finkielkraut hat sich intensiv mit der jüdischen Identität auseinandergesetzt, unter anderem in dem Buch «Der eingebildete Jude». Zuletzt veröffentlichte er die beiden Bücher «Ich schweige nicht. Philosophische Anmerkungen zur Zeit» und «Vom Ende der Literatur. Die neue moralische Unordnung» im Langen Müller Verlag.