Von Birger Nicolai

„Wer die Impfung ablehnt, muss auf eine Behandlung im Krankenhaus verzichten“

10.02.2022
Lesedauer: 7 Minuten

Selten stand Dräger, der weltgrößte Hersteller von Beatmungsgeräten, mehr im Fokus als in der Pandemie. Der Chef erzählt, wie er in der Firma eine 90-prozentige Impfquote erreichte, warum er gegen Impfzwang ist, aber für eine umstrittene Patientenverfügung bei Impfgegnern.

Stefan Dräger bietet einen Kaffee an. Der Vollautomat dafür ist schon lange Jahre im Einsatz, sein Zählwerk zeigt 11.992 Kaffeeportionen an. Der Vorstandschef des Lübecker Medizin- und Sicherheitstechnikkonzerns erinnert sich, dass er mit seinem Besucher vor einem Gespräch vor gut einem Jahr ebenfalls über den Apparat gesprochen hat. Damals stand die Anzeige bei 11.220.

„Seither sind ungewöhnlich wenige hinzugekommen“, sagt der 58-Jährige. Die „soziale Interaktion“ habe in der Corona-Pandemie gelitten, sein Netzwerk habe sich nicht erweitert. Auch für seine Ingenieure sei das Homeoffice nicht ideal. „Die Patentanmeldungen sind im vergangenen Jahr deutlich zurückgegangen“, sagt der Ingenieur für Elektro- und Nachrichtentechnik.

Der Vater von drei erwachsenen Kindern führt das 1889 gegründete Familienunternehmen in fünfter Generation. Seit 2005 ist der gebürtige Lübecker Vorstandsvorsitzender. Dräger-Produkte waren zunächst der weltweit erste Narkoseapparat für Sauerstoff und Chloroform, später folgten Beatmungsgeräte. Heute hat der Konzern weltweit etwa 15.000 Beschäftigte und erreichte im vergangenen Jahr einen Umsatz von rund 3,3 Milliarden Euro. Die Gewinnmarge vor Steuern lag bei acht Prozent.

Vorstandsvorsitzender Stefan Dräger kennt die Arbeit auf Intensivstationen von beruflichen Besuchen dort
Vorstandsvorsitzender Stefan Dräger kennt die Arbeit auf Intensivstationen von beruflichen Besuchen dortQuelle: DRAEGERWERK AG

WELT: In diesen Zeiten sind auch ganz andere Zahlen aus einem Unternehmen von großer Bedeutung, Herr Dräger. Wie hoch ist die Impfquote bei Ihnen im Konzern?

Stefan Dräger: Unsere Impfquote liegt bei 90 Prozent. Für mich ist das nicht überraschend. In vielen Unternehmen liegt die Quote höher als im Durchschnitt der Gesellschaft. Unsere Mitarbeiter nutzen ihren Verstand. Man muss sich doch nur umschauen. Ich war in diesen Wochen im Rahmen meiner Arbeit auf Intensivstationen in Norditalien. Solch ein Besuch macht einen demütig.

WELT: Welche Corona-Regeln gelten in Ihrem Unternehmen?

Dräger: Bei Besprechungen sind bis zu zehn Personen erlaubt. Dafür ist neben der Booster-Impfung noch ein tagesaktueller Test notwendig. Erst dann können die Teilnehmer ihre Masken abnehmen. In der Produktion belassen wir es bei der 3G-Regel und stellen für alle Mitarbeiter arbeitstäglich Schnelltests zur Verfügung. Wir wollen die Balance halten zwischen dem Schutz der Gesundheit und dem Aufrechterhalten der Produktion. Zum Glück mussten wir bislang noch keinen Betrieb vorübergehend schließen.

WELT: Sind Sie für oder gegen eine gesetzliche Pflicht zum Impfen?

Dräger: Eine Pflicht ist für mich grundsätzlich immer die zweitbeste Lösung. Das Stärken der Eigenverantwortung und eine freie Entscheidung sind der bessere Ansatz. Meiner Meinung nach sollte jeder Bürger ein Impfangebot bekommen. Wenn er das ablehnt, gilt dies automatisch als eine Patientenverfügung darüber, bei einer Erkrankung durch das Virus auf eine Behandlung im Krankenhaus zu Lasten der Allgemeinheit zu verzichten. Das vermeidet Überlastung der Krankenhäuser und des Personals.

WELT: Also sind Sie gegen eine Impfpflicht?

Dräger: An einer Impfpflicht stört mich, dass dann wieder der Staat für die Menschen die Entscheidung trifft und ihnen die Verantwortung abnimmt. Natürlich ist das Impfen kein Allheilmittel, aber es ist das Beste, was wir im Moment tun können. Meiner Meinung nach leidet derzeit eine große schweigende Mehrheit bei uns unter einer uneinsichtigen Minderheit. Dies meine ich auch im medizinischen Sinne, wenn zum Beispiel Behandlungen anderer Krankheiten oder Operationen aufgeschoben werden müssen.

WELT: Gleich am Anfang der Pandemie stand Dräger mit den Beatmungsgeräten im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Bundesgesundheitsminister bestellte 10.000 Geräte, das war damals fast eine Jahresproduktion. Sind Sie mit den Aufträgen hinterhergekommen?

Dräger: Kein Mensch musste in Deutschland sterben, weil zu wenige Beatmungsgeräte da waren. Nicht die Apparate waren oder sind der Engpass, vielmehr ist es das Personal. Diese Bestellung wurde dann auch im Nachhinein reduziert. Doch der Bedarf in der übrigen Welt war enorm. Wir haben unsere Produktion binnen weniger Monate vervierfacht und verfügen nun weltweit über die größte Fertigungskapazität.

WELT: Haben Sie die Preise angehoben, und wie viele Beatmungsgeräte haben Sie verkauft?

Dräger: Der Durchschnittserlös hat sich in den beiden vergangenen Jahren erhöht, aber wir haben in keinem einzigen Fall einen höheren Preis genommen als vor der Pandemie. Wir haben keine Rabatte mehr gegeben und stattdessen zum Listenpreis verkauft. Absatzzahlen zu den Beatmungsgeräten nennen wir nicht. Im Moment steigen bei uns jedoch für viele Produkte die Preise. In einzelnen Fällen sind das auch mehr als zehn Prozent. Das liegt daran, dass wir für Zulieferteile oder Material mehr bezahlen müssen. Ein einfacher Transistor kostet uns das Hundertfache im Vergleich zum vergangenen Jahr. Magnesium und Kupfer sind viel teurer, die Transportkosten sind exorbitant gestiegen. Ich denke, dass diese Entwicklung noch die nächsten zwei Jahre andauern wird.

WELT: Verkaufen Sie denn jetzt nicht deutlich weniger Beatmungsgeräte als in den beiden ersten Jahren der Pandemie?

Dräger: Bei den Produktionszahlen sind wir jetzt wieder auf dem Niveau wie vor der Corona-Pandemie. Das kommt für mich nicht überraschend. Der weltweite Markt für Beatmungsgeräte ist dennoch keinesfalls gesättigt. Zudem gibt es jetzt einen Nachholbedarf bei anderen medizinischen Geräten wie etwa den Inkubatoren. Ich habe immer gesagt, dass sich die Situation für uns normalisieren wird. Trotzdem haben wir bislang keinen Mitarbeiter entlassen. Unser Geschäft hat nur zu weniger als der Hälfte mit Produkten zu tun, die in der Pandemie besonders gefragt waren.

WELT: Die Abhängigkeit des Konzerns von diesen Produkten dürfte dennoch deutlich gestiegen sein.

Dräger: Bei den Beatmungsgeräten lag der Umsatzanteil vor der Pandemie bei sieben Prozent, dieser Anteil stieg auf 20 Prozent. Bei den einfachen Atemschutzmasken waren es zuvor 0,3 Prozent, und nun sind es sieben Prozent. Wir verfügen über Produktionsstandorte für Schutzmasken in Deutschland, Schweden, Großbritannien, Südafrika und den USA. In zwei dieser Länder verhandeln wir mit den Regierungen über ein mehrjähriges Bevorratungskonzept für FFP-Masken. Die Vielfalt ist bei uns in der Medizintechnik wie auch in der Sicherheitstechnik enorm groß. Trotzdem erleben wir aktuell ein wirtschaftlich schwieriges Jahr, weil die Sonderkonjunktur durch Corona ausgelaufen ist. Deshalb müssen wir weiterhin in Innovationen und auch in unseren Vertrieb investieren.

WELT: Dann dürfte es ärgerlich sein, dass Ihr für mehr als zehn Millionen Euro entwickelter Schnelltest nun doch nicht auf den Markt. Warum nicht?

Dräger: Wir haben einen Einzeltest mit einer Videoüberwachung und einem Testzertifikat entwickelt. Sie machen den Test zuhause und filmen sich dabei. Über eine App und ein Callcenter werden Ihre Identität, das Video und das Testergebnis überprüft. Danach erhalten Sie das Testzertifikat. Das ist ideal, wenn Sie den Test für die tägliche Arbeit brauchen. Doch dann hat die Bundesregierung entschieden, den Videobeweis nicht für ein Zertifikat zuzulassen. Damit ist unser Produkt zu teuer geworden und gegenüber den chinesischen Billigtests in den Testzentren nicht mehr wettbewerbsfähig. Dabei wäre es gerade für den Erhalt der kritischen Infrastruktur sehr wichtig, ein derart niederschwelliges Testangebot etwa für Beschäftigte in Dienstleistungsberufen mit der 3G-Regel zu haben.

WELT: Wenn Sie davon sprechen, dass Dräger Innovationen voranbringen muss, welche Bereiche meinen Sie?

Dräger: Wir müssen es schaffen, dass medizinische Geräte miteinander verbunden und Patientendaten genutzt werden dürfen. Mithilfe dieser Daten können wir in den Krankenzimmern mit einer assistierten und automatisierten Therapie arbeiten. Das wird das Pflegepersonal unterstützen und entlasten. Ich spreche von der Konnektivität und Interoperabilität und vergleiche es gern mit dem Anschluss eines Druckers vor vielen Jahren. Damals mussten Sie einen Treiber von einer Diskette aufspielen und die Druckerzuordnung umständlich konfigurieren. Heute geht das über einen USB-Anschluss quasi von allein. So etwas brauchen wir für die Medizintechnik. Doch die Zulassungsanforderungen sind schwierig. Es ist uns gerade gelungen, einen internationalen Standard zu vereinbaren. Jetzt muss dies möglichst rasch in europäisches Recht umgesetzt werden.

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