Mehr als 18.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche sind von 2018 bis 2020 in Europa aus staatlicher Obhut verschwunden. Das zeigen Daten des Rechercheverbunds „Lost in Europe“. Gerade sie sind in Gefahr, ausgebeutet zu werden.
Eine Kontrolle der Bundespolizei an der deutsch-polnischen Grenze: Ein Pkw wird angehalten, darin ein polnischer Fahrer und vier weitere Insassen, Vietnamesen, alle ohne Papiere, darunter ein Mädchen im Alter von 15 Jahren, wir nennen sie Trang.
Erwähnt wird die Kontrolle in einer Ermittlungsakte der Berliner Staatsanwaltschaft, die dem rbb vorliegt. Weil Trang noch minderjährig und keiner der Insassen des Pkw mit ihr verwandt ist, wird sie nach der Kontrolle in eine Brandenburger Kindernoteinrichtung gebracht.
Offiziell ist sie nun ein „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ in staatlicher Obhut. Doch schon nach kurzer Zeit verschwindet Trang. Ein Heimmitarbeiter erstellt eine Vermisstenanzeige, weiter passiert nichts. Das Mädchen wird eine Nummer in der Statistik.
18.292 Minderjährige verschwunden
Wie viele derartige Fälle es gibt, zeigt jetzt eine exklusive internationale Datenanalyse des Rechercheverbunds „Lost in Europe“, an dem unter anderem der britische „Guardian“, der niederländische Rundfunk VPRO und der rbb beteiligt sind. Die Recherchen ergaben: Zwischen 2018 und 2020 verschwanden in ganz Europa 18.292 unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche aus staatlicher Obhut und tauchten nicht wieder auf.


So viele sind es mindestens, denn die Analyse zeigt auch die Schwächen der nationalen Einzelstatistiken. So erheben Frankreich, Dänemark und Rumänien erst gar keine Daten. Bulgarien unterscheidet nicht zwischen begleiteten und allein reisenden Kindern und Jugendlichen. Der Austausch der vorhandenen Daten funktioniert auch nicht immer reibungslos.
Der EU-Kommission sind diese Defizite bekannt. Der Sprecher der für Flüchtlingsfragen zuständigen EU-Innenkommissarin Ylva Johansson teilt angesichts der aktuellen Zahlen mit, dass „die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten bereits signalisiert habe, dass sie mehr gegen das Verschwinden geflüchteter Kinder unternehmen müssten, unter anderem durch bessere Datensammlungen“.
Gefahr der Ausbeutung
Verena Keck von der internationalen Kinderrechtsorganisation ECPAT glaubt deshalb, dass die tatsächliche Anzahl vermisster Kinder noch deutlich höher liegt. Sie kritisiert das Fehlen eines europaweit einheitlichen Systems, um Vermisste zu registrieren: „Für Kinder und Jugendliche kann das fatale Folgen haben, da sie in ausbeuterische Situationen und Abhängigkeiten geraten können. Wenn allerdings niemand um diese Kinder und Jugendlichen weiß, sucht auch niemand nach ihnen.“
Das vietnamesische Mädchen Trang wurde einige Monate nach der Kontrolle der Bundespolizei wiedergefunden – zufällig: Bei einer Wohnungsdurchsuchung in Berlin, wo sie bei einem vietnamesischen Paar lebte, das im Drogen- und illegalen Zigarettengeschäft tätig war. Wie sich herausstellte, musste Trang in einem Nagelstudio für 300 Euro im Monat arbeiten. Auch als Drogenkurier und Zigarettenverkäuferin war sie tätig.
Ein „Skandal“ aus Kinderschutzgründen
In Deutschland sind zwischen 2018 und 2020 7806 unbegleitete Kinder und Jugendliche als vermisst gemeldet worden. Die meisten stammen aus Afghanistan, gefolgt von Marokko und Algerien. Viele sind wieder aufgetaucht, doch bei 724 von ihnen fehlt jede Spur.
Erhoben werden diese Zahlen vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden, das auf seiner Website offen auf die Lücken in der eigenen Statistik hinweist: Aufgrund verschiedener Problematiken wie Mehrfacherfassungen, fehlender Personalpapiere oder fehlende erkennungsdienstliche Behandlung sei eine genaue Erhebung nicht möglich. „Die angegebenen Zahlen können daher lediglich als Annäherung dienen.“
Die Qualität der deutschen Statistik hält Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes, „aus Kinderschutzgründen für einen Skandal. Es gibt nach unserem Kenntnisstand überhaupt keine belastbaren Zahlen, nicht mal Näherungswerte, wie viele Flüchtlingskinder von Mehrfachregistrierungen oder fehlerhaften Datenerfassungen betroffen sind. Solche Wissenslücken öffnen natürlich kriminellen Netzwerken Tür und Tor.“
Europaweit agierende Menschenhandelsnetzwerke
Dass diese kriminellen Netzwerke europaweit aktiv sind, weiß Europol seit langem. Bereits Anfang 2016 warnte die europäische Polizeibehörde im „Guardian“ vor deren Aktivitäten. Zuletzt bestätigte im Januar 2021 das BKA dem rbb die Existenz europaweit agierender vietnamesischer Schleuser- und Menschenhandelsnetzwerke.
Ein besonders eindringliches Beispiel für die europäische Dimension dieses Problems ist der Tod von 39 Vietnamesen im Oktober 2019 in einem Kühllaster bei London, den sie in Belgien bestiegen hatten. Zwei Jugendliche unter ihnen waren erst zwölf Tage zuvor aus den Niederlanden verschwunden. Sie waren in einem Heim, in das sie nach Recherchen der niederländischen Investigativredaktion ARGOS (VPRO) Monate zuvor die niederländische Polizei gebracht hatte. Die hatte die beiden Jugendlichen aus einem anderen Laster befreit, in den sie in Köln gestiegen waren.