- Virologe Hendrik Streeck plädiert im „Maischberger“-ARD-Talk für stufenweises Öffnen und mehr Pragmatismus in der Pandemie.
- Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach widerspricht er gleich in zwei Punkten energisch.
- Dessen vorsichtiger Kurs sei „sehr polemisch“ begründet, findet er.
Bis zu 500 Menschen könnten täglich sterben, wenn man wie in Israel zu früh lockern würde. Diese Rechnung machte am Dienstag Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in einem Interview fürs ZDF-„heute journal“ auf. Damit warb der SPD-Politiker für Geduld in der Bevölkerung. Noch sei die Omikronwelle nicht gebrochen.
Für einen sofortigen „Freedom Day“ plädierte auch der Virologe Hendrik Streeck am Mittwochabend nicht im Gespräch mit ARD-Talkerin Sandra Maischberger. „Ich würde nicht sofort alles öffnen, sondern stufenweise vorgehen“, riet der Forscher, der seit Ende des letzten Jahres Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung ist.
Streeck kritisiert Lauterbachs Argumentation
Sehr deutlich kritisierte er jedoch die Argumentation des Gesundheitsministers. Der Verweis auf 500 größtenteils vermeidbare Todesfälle pro Tag sei „sehr polemisch“. Streeck: „Es ist einfach Fakt, dass wir in Deutschland Todesfälle haben. Da werden wir nichts dran ändern können. Das ist Teil des Lebens. Wir werden immer wieder schwere Verläufe und Todesfälle haben – auch wenn ganz Deutschland durchgeimpft ist.“
„Spekulativ“ sei Lauterbachs Hochrechnung überdies. Insbesondere, wenn mit ihr das Aufrechterhalten von 2G-Maßnahmen legitimiert werde. „Die 2G-Regel ist wissenschaftlich nicht sehr gut begründet“, erklärte der Direktor des Institutes für Virologie an der Uni Bonn. Beim Einzelhandel mit Lockerungen zu beginnen, erscheine ihm logisch, der sei noch nie als „Hauptübertragungsort von Infektionen“ aufgefallen. Man solle hier „die Ungeimpften aus ihrem faktischen Lockdown“ herausholen.
Omikron auch bei zweifach Geimpften ansteckend
Überhaupt stelle Streeck fest, dass sich bei der derzeit dominanten Immunfluchtmutante Omikron zweifach Geimpfte genauso infizieren könnten wie Ungeimpfte – „da ist eigentlich kein Unterschied mehr.“ Den Unterschied mache der Booster. „Geboosterte können sich weniger häufig infizieren und das Virus weitergeben. Es hat einen klaren Vorteil, sich boostern zu lassen.“ Gleichwohl lasse sich nicht vorhersagen, ob in Zukunft „nicht eine Variante kommt, wo die Impfstoffe noch weniger wirken“.
Grundsätzlich erwarte er jedoch nicht, dass der SARS-CoV-2-Erreger noch einmal zu einer ernsteren Gesundheitsbedrohung mutiere. „Halte ich es für wahrscheinlich? Nein.“ Das Virus wolle sich – vermenschlicht gesprochen – in den oberen Atemenwegen vermehren und von dort übertragen. Das sei bei Omikron zu beobachten. Die Variante wird mit vergleichsweise „milderen“ Krankheitsverläufen assoziiert.
In dem Zusammenhang widersprach Streeck einer weiteren Einschätzung Karl Lauterbachs, wonach sich ein Virus im Allgemeinen nicht zu einer leichteren Variante entwickeln könne. „Das stimmt so nicht. Ein ganz tolles Beispiel dafür ist das TGEV-Coronavirus bei Schweinen.“ Dieses habe „schwerste und tödliche Erkrankungen“ bei den Tieren hervorgerufen und sich dann von selbst zu einem harmlosen Erreger verändert.
RND/Teleschau