Hunderte Geschäfte werden in den Städten Südafrikas geplündert, Einkaufszentren und Fabriken angezündet. Bürgerwehren nehmen die Verteidigung selbst in die Hand und stemmen sich gegen die anarchischen Zustände. Unser Reporter ist in Durban in der Konfliktzone.23
Über 200 Meter lang ist die Menschenschlange vor dem Supermarkt. Es ist eines der wenigen größeren Lebensmittelgeschäfte in Durban, das nicht geplündert wurde. Seit nunmehr vier Stunden steht die Südafrikanerin Renee Wyatt an. Drei Tage nach Beginn der beispiellosen Unruhen in Südafrika waren der 50-Jährigen nach Brot auch Reis und Speiseöl ausgegangen. „Ich habe Hunger“, sagt sie, „und ich habe große Angst, dass es hier noch schlimmer wird. Dass als nächstes unsere Häuser dran sind.“

Sie zeigt auf eine Rauchsäule, die hinter dem nächsten Gebäudeblock aufsteigt. Gerade wird dort ein nahe gelegenes Einkaufszentrum geplündert.

Ein nervöser Mitarbeiter des Supermarkts geht immer wieder die Warteschlange ab und gibt den Menschen Anweisungen. „Wenn sie kommen, dann rennt nicht weg – bleibt stehen.“ Widerstand zeigen. Die Besitzer des Ladens haben sich bewaffnet, wollen den Mob zur Not mit Schüssen aufhalten.
In Südafrikas Geschichte mangelt es wahrlich nicht an Gewalt, aber das seit Sonntag besonders in Durban und Johannesburg erlebte Ausmaß an Zerstörungswut ist zumindest in der demokratischen Geschichte des Landes beispiellos. Hunderte Einkaufszentren wurden geplündert und zerstört. Innerhalb der vergangenen Woche starben mehr als 70 Menschen bei den Unruhen, Tausende wurden verhaftet. Der Schaden geht in die Milliarden.
Regierung will 25.000 Soldaten schicken
Präsident Cyril Ramaphosa kündigte am Montag an, die Armee in den Regionen beider Städte einzusetzen, um die Ordnung wiederherzustellen. Zunächst war von 2500 Soldaten die Rede, am Mittwoch dann gab die Regierung bekannt, man wolle diese Zahl verzehnfachen.


Noch am Mittwochvormittag war in Durban allerdings kein Soldat zu sehen. Stattdessen Bilder wie aus einem Bürgerkrieg. Schon die Autobahn vom Flughafen in Richtung Stadt ist von Rauchsäulen brennender Fabriken und Einkaufszentren gerahmt.
Anwohner und Besitzer nahegelegener Geschäfte organisieren sich meist ohne jegliche Polizeikoordination in Bürgerwehren – eine gefährliche Dynamik, wie man sie sonst aus Bürgerkriegen kennt. Mit Baseball-Schlägern und anderen improvisierten Waffen ausgerüstet, errichten sie Straßensperren an den Ausfahrten der Autobahn „N2“. Jedes Auto wird inspiziert, um mögliche Plünderer abzufangen.

Auslöser der Proteste war die Inhaftierung von Südafrikas ehemaligem Präsidenten Jacob Zuma Anfang Juli. Da hatte der 79 Jahre alte Politiker endlich seine 15 Monate lange Beugehaft angetreten, zu der er vom Verfassungsgericht wegen Missachtung einer richterlichen Anordnung verurteilt worden war. Der Haftbefehl basiert keineswegs auf Zumas gut dokumentierten Korruptionsvergehen, sondern seiner verweigerten Aussage vor einem damit befassten Untersuchungsausschuss.
Die Justiz arbeitet quälend langsam
Die quälend langsam arbeitende südafrikanische Justiz steht also erst am Anfang der Aufarbeitung von Zumas Staatsplünderung, die erst nach knapp einem Jahrzehnt im Jahr 2018 mit seinem erzwungenen Rücktritt endete.
Unter den Anstiftern der Gewalt der vergangenen Tage sind Zuma-Gefolgsleute, die dem von ihnen kontrollierten linken Flügel der Regierungspartei African National Congress (ANC) zur Rückkehr an die Macht verhelfen wollen – und ganz nebenbei bei einer weiteren Stärkung der Justiz auch die eigene Verhaftung befürchten müssen. Sie scheinen die Unregierbarkeit von Teilen Südafrikas in Kauf zu nehmen, um den gemäßigten Ramaphosa in Partei und Regierung zu schwächen.


Neben Tausenden Zuma-Loyalisten agiert aber längst eine noch weit größere Zahl opportunistischer Krimineller. Es entlädt sich eine angestaute Wut über die enormen Einkommensunterschiede und die während der Pandemie noch einmal deutlich gestiegene Arbeitslosigkeit.
Die soziale Schere klafft in Südafrika nach wie vor so weit auseinander wie in kaum einem anderen Land – ein Faktor, der weltweit mit hoher Kriminalität weit mehr korreliert als Armut.
Das Gelingen des südafrikanischen Gesellschaftsmodells, vom emeritierten Erzbischof Desmond Tutu einst mit der Metapher der Regenbogennation beschrieben, hing immer vom wirtschaftlichen Aufschwung für alle ab. Selten war das Land davon weiter entfernt als in diesen Tagen.