Um Sprechen zu lernen, brauchen Kinder Austausch mit anderen – die Kontaktbeschränkungen erschweren das. Welche Warnsignale Väter und Mütter kennen sollten.
Mit der Freundin quasseln, den Kindergärtner um Hilfe bitten und abends den Eltern erzählen, was am Tag passiert ist: Kinder sind selten still. Für ihre Entwicklung ist das wichtig. „Reden ist soziale Verankerung“, sagt Katrin Neumann, Direktorin der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie des Universitätsklinikums Münster, die auch die Weltgesundheitsorganisation berät. Das Sprechen könne man etwa mit der Fellpflege bei Affen vergleichen; auch das Reden diene der sozialen Bindung.
In der Corona-Pandemie seien jedoch viele Gesprächsanlässe weggefallen, sagt Sonja Utikal vom Deutschen Bundesverband für Logopädie. Durch geschlossene Kindergärten und gesperrte Spielplätze hätten die Jüngsten seltener mit Personen außerhalb der Familie gesprochen. Diese Gespräche seien jedoch besonders effektiv, um zu lernen, wie man Wünsche oder Ideen mitteilt. „Die Eltern wissen vielleicht, was mit ‚e-ä!‘ gemeint ist, anderen Kindern oder Erwachsenen muss man es aber erklären.“
Die langen Phasen, in denen Kindergärten und Schulen geschlossen waren, bereiten Logopäden und Medizinern Sorgen. Kinder könnten etwa „umgebungsbedingte Auffälligkeiten“ entwickelt haben, sagt Utikal. Sie bekämen nicht genügend sprachliche Anregung von außen und blieben deswegen unter ihren Möglichkeiten. Jedes Kind sei beim Spracherwerb von seinem Umfeld abhängig, sagt sie. „Wenn man in den sensiblen Phasen nicht ausreichend gefördert wird, können Rückstände entstehen, die nicht mehr oder nur mit viel Mühe aufgeholt werden können.“
Sprechen muss regelmäßig trainiert werden
Doch auch Kinder, die schon gut sprechen konnten, hat der Lockdown getroffen. „Es gilt das Prinzip ‚use it or lose it‘“, sagt Neumann. Sprachkompetenzen müssten regelmäßig trainiert werden, sonst stagniere das Sprachniveau mancher Kinder. „Während des Homeschoolings wurden viele Kinder schleichend abgehängt, insbesondere solche mit nichtdeutscher Muttersprache.“ Sie rechnet damit, dass künftig mehr Schüler Sprachnachhilfe brauchen werden. „Das ist ein Grund, weshalb Präsenzunterricht sein muss.“
Gleichzeitig habe es 2020 im Vergleich zum Vorjahr 6,4 Prozent weniger Therapiesitzungen bei Logopäden gegeben, sagt Utikal. In der Pandemie hätten diese zwar erstmalig auch Videobehandlungen ausführen dürfen, das sei jedoch nicht für jedes Kind geeignet. Zudem habe nicht jede Familie die technischen Voraussetzungen. Auch mussten Patienten Therapien aufgrund von Quarantänezeiten häufiger unterbrechen.
Wie viele Kinder Probleme mit dem Spracherwerb haben, werde in Deutschland nicht genau erfasst, sagt die Logopädin. Statistische Unsicherheit herrsche auch deswegen, weil die Ursachen nicht zuverlässig erhoben würden, sagt Utikal. Die Forschung nehme an, dass zwei bis 15 Prozent der Vier- bis Sechsjährigen eine Sprachentwicklungsstörung aufwiesen, also Störungen in der Entwicklung des „Systems Sprache im Gehirn“, sagt Neumann: „Wo ist mein Wortschatz abgespeichert, wo die Laute, die ich für meine Mutter- oder Umgebungssprache brauche? Wie gut kann ich sie hervorholen? Wie steuere ich meine Rachen- und Mundmuskulatur?“
„Ja“- und „Weiß nicht“-Sager genau beobachten
Doch was können Eltern tun, die sich nicht sicher sind, ob ihr Kind in der Pandemie Probleme beim Sprechen entwickelt hat? Utikal gibt zunächst einmal Entwarnung. „Väter und Mütter sind Fachleute für ihr Kind.“ Sie hätten meist ein gutes Gespür dafür, wenn sich die Sprache nicht gut entwickle. Im Zweifel könnten Eltern einmal notieren, welche Wörter ihr Kind schon beherrsche. Ein erstes Alarmsignal sei, wenn es im Alter von zwei Jahren weniger als 50 Wörter verwende. Bei mehrsprachig Aufwachsenden sei unerheblich, aus welcher Sprache diese Wörter kämen.
„Wer zu Hause einen ‚Ja‘- oder ‚Weiß nicht‘-Sager hat, sollte sein Kind genauer beobachten“, sagt Neumann. Wenn ein Kind Fragen oft bejaht, knapp, unspezifisch oder mit Floskeln antwortet und Aufforderungen nicht nachkommt, könnte mehr als eine Verweigerungshaltung dahinterstecken: Kinder neigten zu diesem Verhalten, wenn sie ihre Eltern nicht richtig verstünden, aber auch keine Nachfragen formulieren könnten. Eltern sollten sich rasch medizinischen Rat holen, sagt Utikal. „Wer frühzeitig handelt, kann mit einigen Therapiestunden schon gute Impulse setzen.“ Oftmals würden Auffälligkeiten jedoch erst kurz vor der Einschulung behandelt – dann hätten sich diese aber schon eingeschliffen. „Je älter das Kind, desto weniger wirksam ist die Therapie“, sagt auch Neumann. Schon im Alter von vier Jahren sei die Sprachentwicklung in ihren Grundzügen abgeschlossen. „Alles danach ist nur noch ein Ausfeilen.“ Lese- und Rechtschreibschwächen etwa würden oft von Kindern entwickelt, die schon vor der Einschulung Probleme in ihrer Sprachentwicklung hatten.
Wer sein Kind unterstützen möchte, dem rät Utikal, die Sprachförderung in den Alltag einzubauen. Beim Einkaufen etwa könne man aktiv mit seinem Kind kommunizieren: „Wo sind die Nudeln? Und was machen wir jetzt? Genau, bezahlen.“ Wichtig sei, dem Kind offene Fragen zu stellen, die es nicht einfach mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten kann. Auch sollte man sein Kind nicht belehren, sagt Neumann. Besser sei es, falsche Wörter oder Sätze richtig und in einem weiteren Kontext zu wiederholen. Schon kleine Änderungen im Alltag könnten viel bewirken, sagt Utikal: „Es hilft schon, ungestörte Zeit für das Kind zu reservieren, in der das Handy einmal weggepackt wird.“