Russland hat nach dem Erscheinen eines Enthüllungsvideos des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny auf diplomatischem Weg schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung erhoben.
Nach SPIEGEL-Informationen wurde der russische Botschafter Sergej Jurjewitsch Netschajew bereits am 16. Februar im Auswärtigen Amt (AA) vorstellig. Bei dem Termin kritisierte der Gesandte, dass Nawalny den Film über Korruptionsvorwürfe gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin nur mithilfe der Bundesregierung produziert haben könne. Berlin habe sich damit zum Komplizen des Kremlkritikers gemacht.
Konkret beschwerte sich der Gesandte der Regierung bei Staatssekretär Miguel Berger, deutsche Behörden hätten Nawalny nach seiner Behandlung in der Berliner Charité im Dezember 2020 eine Reise nach Dresden ermöglicht. Dort drehte der Kremlkritiker Aufnahmen vor dem Wohnblock, in dem Putin zu DDR-Zeiten als KGB-Agent gewohnt hatte.
Streit um Stasiakten über Putin
Zudem kritisierte Moskaus Gesandter, die Bundesregierung habe Nawalny Zugang zum Stasi-Unterlagenarchiv ermöglicht, wo er Unterlagen zu Putin eingesehen hatte. Diese Anschuldigungen hatte Russlands Außenminister bereits vor ein paar Wochen indirekt in einem Interview geäußert.
Die Beschuldigungen aus Moskau illustrieren, wie sehr der Kreml über den Nawalny-Film verärgert ist. In dem fast zwei Stunden langen Video »Ein Palast für Putin« präsentiert Nawalny Korruptionsvorwürfe gegen Russlands Präsidenten.
Es geht um ein Prunkanwesen am Schwarzen Meer, das rund eine Milliarde Euro gekostet haben soll und das der Oppositionelle Putin zuschreibt. Im Geflecht der Transaktionen für die Finanzierung des Luxusprojekts, die Nawalny beschreibt, tauchen auch Putins angebliche Geliebte sowie Putins Familie auf. Putin wird in dem Film als korrupter Egomane porträtiert, der sich und seine Getreuen hemmungslos mit Vorteilen versorgt.
Das YouTube-Video wurde inzwischen über 115 Millionen Mal aufgerufen.
Berlin reagiert gelassen
Aus Sicht der Bundesregierung sind die Vorwürfe Moskaus gegen Berlin haltlos. Nawalny war nach dem Giftanschlag auf ihn in Russland am 20. August nach Deutschland gebracht worden, wo er in der Berliner Charité behandelt wurde. Nach seiner Entlassung erholte er sich mehrere Wochen in Deutschland. Bei der Reise nach Dresden wurde Nawalny zwar tatsächlich durch Polizisten begleitet. Die Personenschützer sorgten allerdings nur für seine Sicherheit, da man nach dem Giftanschlag weitere Attacken auf ihn befürchtete.
Nawalny macht den russischen Geheimdienst FSB für den Anschlag auf ihn verantwortlich. Nach Recherchen von SPIEGEL, Bellingcat und weiteren Partnern waren mindestens acht Agenten des FSB am Giftanschlag auf Alexej Nawalny beteiligt.
Deutsche Abgeordnete solidarisieren sich mit Nawalny
Auch der zweite Vorwurf Russlands ist einigermaßen obskur. So steht das Stasi-Unterlagenarchiv allen Journalisten und Wissenschaftlern für Recherchen zur Verfügung. Über die dort vorliegenden Akten zu Putins Zeit in Deutschland wird schon seit Jahren immer wieder berichtet. Der Zugang Nawalnys war also alles andere als exklusiv.
Am 17. Januar kehrte der Kremlkritiker nach Russland zurück. Bei der Einreise wurde er sofort festgenommen und befindet sich seitdem in Haft. Putins bekanntester Kontrahent sitzt nun in der Strafkolonie IK-2 in Pokrow nahe Moskau, wo er sich seit über einer Woche in einem Hungerstreik befindet. Er fordert, dass endlich einer seiner Ärzte zu ihm gelassen wird, wie es ihm nach dem Gesetz zusteht. Nawalny klagt seit Wochen über Schmerzen im Rücken, die nun bereits in Beine und Arme ausstrahlen.
Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages werfen Russland »gezielte Folter« vor. Zahlreiche Außenpolitiker fordern jetzt eine Untersuchung seiner Haftbedingungen und sprechen Nawalny in einem Brief »Anerkennung und volle Solidarität« aus.
Zu den Unterzeichnern des Briefes gehören neben der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Bärbel Kofler (SPD) zahlreiche Außenpolitiker: Manuel Sarrazin, Omid Nouripour und Jürgen Trittin von den Grünen; Roderich Kiesewetter, Andreas Nick und Jürgen Hardt von der Union; Dagmar Freitag, Christoph Matschie und Nils Schmid von der SPD sowie die Liberalen Renata Alt und Bijan Djir-Sarai.
»Die Meldungen über den Hungerstreik von Alexej Nawalny sind bedrückend«, sagt Manuel Sarrazin, Sprecher der Grünen für Osteuropapolitik und Initiator des Briefs. Die Unterbringung in der Haft sei »offensichtlich nicht mehr sicher. Wir dürfen nicht wegsehen, wenn das System Putin Nawalny erneut in Gefahr bringt«.