„Wir haben alle Kräfte dorthin beordert“

Polen rechnet mit gewaltsamem Versuch, die Grenze zu durchbrechen

15.11.2021
Lesedauer: 8 Minuten
Hunderte Migranten versammeln sich auf der belarussischen Seite der Grenze zu Polen. FOTO: IMAGO/ITAR-TASS

Der belarussische Machthaber Lukaschenko sagt, er strebe „keinen Grenzkonflikt“ an. Nun treiben aber offenbar Sicherheitskräfte Tausende Migranten zur Grenze.

An der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus kommen nach polnischen Angaben auf der belarussischen Seite des Übergangs Kuznica immer mehr Migranten zusammen. Nach Angaben der Polizei seien dort mittlerweile rund 3500 Menschen versammelt, schrieb der Sprecher des Koordinators der Geheimdienste, Stanislaw Zaryn, am Montag auf Twitter.

Weitere Flüchtlingsgruppen würden von belarussischen Sicherheitskräften dorthin getrieben, teilte das Verteidigungsministerium in Warschau am Montag per Twitter mit. Das Zeltlager in der Nähe sei praktisch leer. Dazu postete das Ministerium mehrere Videos.

Die Videos zeigen eine große Menschenmenge bei den Abfertigungsanlagen des geschlossenen Grenzübergangs auf belarussischer Seite sowie Migranten, die auf einem Forstweg laufen. Den Angaben zufolge kommt es auch zu Provokationen durch belarussische Uniformierte. „Das Geräusch von Schüssen, vermutlich aus blinder Munition, gehört zu den alltäglichen Ereignissen, mit denen unsere Soldaten und Beamten fertig werden müssen.“

Eine Sprecherin des polnischen Grenzschutzes sagte, die Zahl der Migranten beim Grenzübergang Kuznica werde auf mehrere Hundert geschätzt. „Wir rechnen damit, dass es einen Versuch geben wird, die Grenze mit Gewalt zu überwinden. Momentan haben wir alle Kräfte dorthin beordert, die wir zur Verfügung haben.“

Hunderte Migranten am Grenzübergang Kuznica
Hunderte Migranten am Grenzübergang KuznicaFOTO: IMAGO/ITAR-TASS

Auch der belarussische Grenzschutz berichtete am Mittag, dass eine „große Kolonne“ sich in Richtung polnischer Grenze bewege. Entgegen der polnischen Darstellung betonte die belarussischen Behörde, die Migranten organisierten sich eigenständig. Für die Schulen in Kuznica und im 16 Kilometer weiter nördlich gelegenen Ort Nowy Dwor ordnete die polnische Schulbehörde wegen der aktuellen Situation Fernunterricht für die kommenden Tage an.

Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen, da Polen in der Grenzregion den Ausnahmezustand verhängt hat. Journalisten und Helfer dürfen nicht hinein. Das gilt auch für das Grenzgebiet auf belarussischer Seite.

https://twitter.com/BarzanSadiq/status/1460224339165470721?s=20

An Polens Grenze zu Belarus harren auf der belarussischen Seite seit mehreren Tagen Tausende Migranten bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in provisorischen Camps im Wald aus. Die staatliche belarussische Nachrichtenagentur Belta veröffentlichte am Montag wieder Fotos von Menschen, die sich in provisorischen Lagern an Lagerfeuern wärmen.

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Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko wird beschuldigt, in organisierter Form Flüchtlinge aus Krisenregionen an die EU-Außengrenze zu bringen. Vermutet wird, dass sich Machthaber Alexander Lukaschenko damit für Sanktionen rächen will, die die EU wegen der Unterdrückung der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition erlassen hat.

Als Reaktion darauf haben die Außenminister der EU-Staaten am Montag ein neues Sanktionsinstrument gegen Beteiligte an der Schleusung von Migranten nach Belarus beschlossen. Die Europäische Union werde nun Personen und Einrichtungen in Visier nehmen können, die einen Beitrag dazu leisteten, dass das belarussische Regime Menschen für politische Zwecke instrumentalisieren könne, teilte der Rat der Mitgliedstaaten am Montag mit.

Das neue Sanktionsinstrument soll unter anderem gegen die staatliche belarussische Fluggesellschaft Belavia eingesetzt werden. Diese soll künftig von europäischen Firmen, die Flugzeuge verleasen, keine Maschinen mehr nutzen dürfen. Ziel ist, dass Belavia dann nicht mehr so viele Menschen aus armen oder konfliktreichen Ländern zur Weiterschleusung in die EU nach Belarus fliegen kann.

Zu den Flugzeugleasinggesellschaften, die Maschinen an Belavia verliehen haben, gehören das dänische Unternehmen Nordic Aviation Capital sowie das irische Unternehmen AerCap. Nach Angaben aus EU-Kreisen hatte Belavia zuletzt deutlich mehr als die Hälfte seiner genutzten Flugzeuge nur geleast.

Nach Angaben von Diplomaten sollen mit dem neuem Sanktionsinstrument in einem ersten Schritt mehrere Dutzend Personen und Unternehmen ins Visier genommen werden. Neben Belavia sollen darunter auch Reiseveranstalter und an der Schleusung beteiligte Mitglieder des Regierungsapparats in Belarus sein.

Belarus will Migranten angeblich von Heimkehr überzeugen

Zuvor hatte Lukaschenko bekanntgegeben, dass sich Belarus um die Rückführung von Migranten an der belarussisch-polnischen Grenze in ihre Heimatländer einsetze.

„Es wird aktiv daran gearbeitet, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie bitte nach Hause zurückkehren sollen. Aber niemand will zurückkehren“, sagte Lukaschenko am Montag laut der staatlichen Nachrichtenagentur Belta. Belarus wolle überdies „keinen Grenzkonflikt“ mit Polen.

Zugleich sagte er, Belarus könne auch ein Angebot der Stadt München annehmen, die Flüchtlinge mit Belavia nach Deutschland zu fliegen, sollte Polen keinen „humanitären Korridor“ zur Verfügung stellen. „Wir werden sie mit unseren eigenen Flugzeugen nach München schicken, falls nötig.“ Die Organisation einer „Flüchtlingsbewegung“ durch Belarus wäre für sein Land teurer, er habe nicht die Absicht, dies zu tun.

Polen und das Auswärtige Amt der Bundesregierung waren zuvor Gerüchten entgegengetreten, wonach Deutschland an diesem Montag einen Transit für die mehr als 4000 feststeckenden Migranten plane. „Wer immer diese Lügen verbreitet, bringt Menschen in große Gefahr“, teilte das Ministerium am Sonntag auf Twitter mit.

Polen versandte Textnachrichten an die Menschen. „Das ist eine Lüge und Unfug! Polen wird seine Grenze zu Belarus weiterhin schützen.“ Die SMS auf Englisch würden alle erhalten, deren Handys sich im Grenzgebiet in Reichweite des polnischen Mobilfunks befänden, schrieb Innenminister Mariusz Kaminski auf Twitter.

Die Nacht von Sonntag auf Montag verlief nach Angaben der Regierung in Warschau ohne besondere Vorkommnisse. Der vom Grenzschutz erwartete Sturm großer Gruppen von Migranten sei ausgeblieben, sagte der Sprecher des Geheimdienstkoordinators, Stanislaw Zaryn, am Montag im polnischen Radio. „Es hat sich nichts ereignet, mit dem unsere Leute nicht vorher schon zu tun hatten.“

Am Sonntagabend hatte Polens Grenzschutz den Sicherheitskräften in Belarus vorgeworfen, die an der gemeinsamen Grenze feststeckenden Migranten auf einen Durchbruch der Sperranlage vorzubereiten. Bei dem Grenzort Kuznica seien in dem Lager auf der belarussischen Seite viele Zelte verschwunden, schrieben die Grenzer am Sonntag auf Twitter. „Die Ausländer bekommen Instruktionen, Werkzeuge und Tränengas von den belarussischen Sicherheitsorganen.“

Das Verteidigungsministerium teilte mit, die Flüchtlinge hätten Äste aus dem Wald zusammengetragen. Zudem seien viele belarussische Medien präsent. Die polnische Polizei warnte die Migranten per Lautsprecherdurchsagen auf Englisch: „Wenn Sie die Anweisungen nicht befolgen, wird Gewalt angewendet.“

Oppositionelle belarussische Telegram-Kanäle veröffentlichten am Sonntagnachmittag Videos, auf denen größere Migrantengruppen zu sehen sein sollen, die sich der polnischen Grenze nähern. „Es werden immer mehr Migranten“, hieß es etwa beim Medium Nexta.

Mehrfach versuchten größere Gruppen zuletzt, die Zaunanlage in Richtung Polen zu durchbrechen. Allein am Sonntag registrierte Polens Grenzschutz 118 Versuche. Nach Zaryns Angaben harren auf der belarussischen Seite der Grenze derzeit mehr als 4000 Menschen in mehreren großen Lagern aus. Eines davon befinde sich in der Nähe des Grenzorts Kuznica.

Russland bietet sich als Vermittler an

Russland hat sich unterdessen als Vermittler zwischen Belarus und der EU angeboten. Auf die Frage, wie Moskau helfen könnte, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag der Agentur Interfax zufolge: „In diesem Fall ausschließlich als Verhandlungsvermittler.“

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte bereits zuvor Hilfe angeboten, allerdings nicht gesagt, wie die konkret aussehen könnte. Außerdem äußerte der Kremlchef Hoffnung auf ein Gespräch zwischen der amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem autoritären belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko. Russlands Staatschef hat einen direkten Draht zu Lukaschenko.

Die türkische Regierung hatte bereits vor Tagen Menschen aus Syrien, dem Irak und dem Jemen die Weiterreise nach Belarus verboten. Auch die private syrische Fluggesellschaft Cham Wings hatte ihre Flüge eingestellt.

Als Reaktion auf die Drohung der EU verhängte auch die belarussische Fluggesellschaft Belavia am Sonntag ein Flugverbot auf der Route von Dubai nach Belarus für Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und dem Jemen. Der Schritt sei auf Ersuchen der Vereinigten Arabischen Emirate erfolgt, teilte Belavia mit.

Irak will Flüchtlinge am Donnerstag zurückbringen

Die irakische Regierung hatte bereits im August Flüge in die belarussische Hauptstadt Minsk gestoppt, um die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen. Diese reisten jedoch über andere Flughäfen. Unter anderem gehen aus der libanesischen Hauptstadt Beirut weiter regelmäßig Maschinen nach Minsk.

Der Irak will nun sogar am Donnerstag mit einem ersten Sonderflug irakische Flüchtlinge aus Belarus zurück in ihr Heimatland bringen. Die Rückkehr erfolge freiwillig, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Bagdad am Sonntagabend dem irakischen Staatsfernsehen.

Seine Regierung wisse von etwa 750 Irakern, die an der belarussischen Grenze bei schwierigen Wetterbedingungen festsäßen. Es gebe dort jedoch weitere irakische Flüchtlinge, die in den Wäldern an der langen Grenze nur schwer zu erreichen seien.

Die Regierung in Bagdad bemühe sich zudem darum, die Reise weiterer Iraker nach Belarus zu unterbinden, versicherte der Sprecher des Außenministeriums weiter. So sei die Arbeit des belarussischen Konsuls in Bagdad und in der nordirakischen Stadt Erbil eingestellt worden, damit keine Visa mehr ausgestellt werden. Unter den Flüchtlinge in Belarus, die in die EU wollen, sind Berichten zufolge besonders viele Kurden aus dem Norden des Irak. (dpa, AFP)

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