Die Verfassungsrichter geben grünes Licht für den EU-Hilfsfonds – vorerst zumindest. Zur Frage, was die Entscheidung für die von Kritikern befürchtete dauerhafte Schuldenvergemeinschaftung heißt, entbrennt nun der Kampf um die Deutungshoheit.63Anzeige
Eine Deutsche begrüßte die Entscheidung aus Deutschland besonders: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schrieb auf Twitter, kaum dass das Bundesverfassungsgericht den Eilantrag gegen den 750 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds abgelehnt hatte: „Die EU bleibt auf Kurs bei der wirtschaftlichen Erholung nach dieser beispiellosen Pandemie.“
I welcome today’s decision by the German Constitutional Court.
— Ursula von der Leyen (@vonderleyen) April 21, 2021
The EU stays on track with its economic recovery, following this unprecedented pandemic. #NextGenerationEU will pave the way for a green, digital and more resilient European Union.#StrongerTogether
Andere Reaktionen aus Brüssel zeigen aber auch, dass die Diskussion um eine dauerhafte Schuldenaufnahmen mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keinesfalls beendet ist. „Jetzt müssen wir dringend die EU-Verträge reformieren, damit europäische Fiskalpolitik nicht nur in Krisenzeiten möglich ist“, fordert beispielsweise Damian Boeselager, der für die Partei Volt ins Europäische Parlament gewählt wurde und dort der Fraktion der Grünen angehört.
Bereits in den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Wortmeldungen, die das gemeinsame Schuldenmachen als festen Bestandteil der Europäischen Union etablieren wollen. Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), forderte im Oktober, den Corona-Wiederaufbaufonds zu einer dauerhaften Einrichtung zu machen. Diese Forderung wiederholte David Sassoli, der Präsident des Europäischen Parlaments, im November.
Zu den größten Unterstützern hierzulande gehört Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD). Dieser machte vor Wochen im Bundestag deutlich, wie er den Wiederaufbaufonds sieht: als wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Fiskalunion.
Genau solche Aussagen sind es, die einige Menschen hierzulande aufschrecken und zu Klagen führen. Es war ein Bündnis um Bernd Lucke, einst AfD und heute in der Partei LKR (Liberal-Konservative Reformer), das den Wiederaufbaufonds per Eilantrag stoppen wollte. Mit der eigentlichen Verfassungsbeschwerde der Kläger wird sich das Gericht nun zu einem späteren Zeitpunkt in einem Hauptsacheverfahren ausführlich beschäftigen (Az. 2 BvR 547/21). Auch eine Organklage der AfD-Bundestagsfraktion liegt den Richtern in Karlsruhe seit Ostern vor.
„Krasser Vertragsbruch“?
Luckes „Bündnis Bürgerwille“, das nach eigenen Angaben aus mehr als 2200 Unterstützern besteht, hält vor allem die gemeinschaftliche Verschuldung für unzulässig. Diese sei ein „krasser Vertragsbruch“, die EU-Verträge würden eine gemeinsame Schuldenaufnahme verbieten.
Die Richter des Zweiten Senats haben sich noch nicht festgelegt, wie sie die Sache sehen. Der Ausgang sei offen. „Bei summarischer Prüfung“ im Eilverfahren sehen sie aber keine hohe Wahrscheinlichkeit für einen Verfassungsverstoß. Höhe, Dauer und Zweck der von der EU-Kommission aufzunehmenden Mittel seien begrenzt, hieß es in der Mitteilung des Gerichts.
Das gleiche gelte für eine mögliche Haftung Deutschlands. Deshalb darf Deutschland den Fonds nun erst einmal mit auf den Weg bringen. Ein verspäteter Start könne irreversible Folgen haben, teilte das Gericht mit. Die Bundesregierung befürchte außerdem „erhebliche außen- und europapolitische Verwerfungen“. Das erste Geld soll im Juli fließen.
Offen ist, was der Karlsruher Beschluss für die inhaltlich verwandte, aber in der Sache umfangreichere und formal anders gelagerte Klage der AfD-Bundestagsfraktion bedeutet.
Diese hatte am 3. April eine Organklage gegen den EU-Eigenmittelbeschluss eingereicht und dabei auch einen Eilantrag gestellt, mit dem die Ausfertigung des Ratifizierungsgesetzes durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ebenfalls verhindert werden sollte. Aber mit diesem AfD-Eilantrag haben sich die Richter in ihrem Beschluss vom Mittwoch nicht beschäftigt.
Dies sorgt in der AfD für Verwunderung: „Erstaunlicherweise ist bis heute nicht erkennbar, ob und wann eine Entscheidung über den Antrag unserer einstweiligen Anordnung erfolgt“, sagte der AfD-Finanzpolitiker Albrecht Glaser WELT.
Unklar bleibt vorerst, ob das noch schwebende Verfahren zum AfD-Eilantrag nicht ebenfalls ein Hinderungsgrund für die Ausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten sein könnte.
Es lässt sich lediglich spekulieren, dass die Ablehnung des von der Lucke-Gruppe gestellten Eilantrags eine nicht sonderlich hohe Erfolgsaussicht auch des AfD-Antrags impliziert. Das Bundespräsidialamt jedenfalls tritt nun bei dem Ratifizierungsgesetz „in das Ausfertigungsverfahren ein“, wie eine Sprecherin WELT sagte.
Die Diskussion über eine dauerhafte Schuldenunion dürfte in jedem Fall nicht abreißen, auch wenn die Verfassungsrichter in ihrer vorläufigen Entscheidung ausdrücklich darauf verwiesen, dass sie den Wiederaufbaufonds auch für zulässig halten, weil es sich um eine einmalige Maßnahme in einer wirtschaftlichen Ausnahmesituation handelt – und eben um keine dauerhafte.
Auf diese Feststellung legt man auch in der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag Wert. „Karlsruhe setzt den Plänen von Finanzminister Scholz für eine Fiskal- und Schuldenunion ein klares Stoppzeichen. Die europäische Schuldenaufnahme ist ganz klar zeitlich befristet und einmalig“, sagt Eckhardt Rehberg, haushaltspolitischer Sprecher der Union. Eine Schuldenunion sei mit ihnen nicht zu machen.
Aus dem EU-Parlament kommen ähnliche Stimmen: „Es handelt sich bei dem Wiederaufbauplan Next Generation EU um ein einmaliges Krisenreaktionsinstrument und nicht um den Startschuss für die Schuldenunion“, warnt etwa der CSU-Finanzpolitiker Markus Ferber, der die christdemokratische EVP-Fraktion im Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europäischen Parlaments vertritt.