Bundespolitik

Ministerin Anne Spiegel: Widersprüchliche Aussagen und schlechte Erreichbarkeit

20.03.2022
Lesedauer: 8 Minuten
Ex-Landesumweltministerin Anne Spiegel vor dem U-Ausschuss zur Flutkatstrophe am 11. März. Foto: dpa

Ihr Auftritt vor dem U-Ausschuss zur Flutkatastrophe warf neue Fragen auf. In der aktuellen Flüchtlingskrise führen andere die Geschäfte im Familienministerium.

Anne Spiegel hat kein gutes Timing. Am 24. Februar teilte ihr Ministerium mit, sie sei Corona-positiv. Seitdem ist die Familienministerin weitestgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden. Zwar wurde sie zwei Wochen später erstmals negativ getestet. Doch kann sie bisher keine öffentlichen Termine wahrnehmen und hatte sich bis Freitag auch nicht anderweitig geäußert. Ihr Ministerium spricht von einer „Post Corona Erkrankung“. Der 24. Februar war auch der Tag, als Russland die Ukraine überfiel. Die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend muss sich also vertreten lassen, während täglich Zehntausende Frauen, Senioren und unbegleitete Jugendliche nach Deutschland fliehen.

Einmal trat Spiegel seitdem aber doch öffentlich auf: bei ihrer Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal letzten Sommer. Auch hier geht es mindestens um schlechtes Timing. Vor dem Ausschuss wollte die ehemalige Umweltministerin von Rheinland-Pfalz am Freitag vor einer Woche alle Fragen zu ihrem Verhalten in der Flutnacht klären. Sie wurde gemeinsam mit ihrem damaligen Staatssekretär Erwin Manz vernommen. Der Ausschuss soll aufarbeiten, welche Fehler gemacht wurden, als allein im Ahrtal 134 Menschen starben und 700 verletzt wurden.

Keine einfache Zeit für Spiegel, sagt Spiegel

Sie sei froh, nun endlich sprechen zu können, erklärte Spiegel vor Beginn der Anhörung. Nur aus Respekt vor der Arbeit des Ausschusses habe sie sich bisher nicht in den Medien geäußert. Sie gebe zu, „dass das in den letzten Tagen nicht einfach war“. Doch tatsächlich hat Spiegels Auftritt und der ihres Vertrauten Manz mehr Fragen aufgeworfen, als er beantworten konnte.

Zuvor war eine ganze Reihe von Informationen ans Licht gekommen, die Spiegel belasten. So war sie laut den Telefondaten ihres Staatssekretärs in der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli zwischen 22.24 Uhr und 7.52 Uhr nicht zu erreichen. Am Nachmittag hatte sie noch eine Pressemeldung freigegeben, in der stand, dass „kein Extremhochwasser droht“. Zu diesem Zeitpunkt starben bereits Menschen. Auch später wurde die Meldung nicht korrigiert. Außerdem hatte sie am nächsten Morgen dem Vizeregierungssprecher geschrieben: „Das Blame Game könnte sofort losgehen, wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben…“ Laut Chats mit Vertrauten traute sie Innenminister Roger Lewentz (SPD) zu, er könnte ihr die Schuld für die Katastrophe geben.

War die Karriere wichtiger als die Sorge um die Opfer?

All das warf ein äußerst hässliches Licht auf die 41 Jahre alte Ministerin. Hatte sie sich mehr um ihre Karriere als um Opfer und deren Angehörige gesorgt? Im Ausschuss versuchte Spiegel, die Vorwürfe zu entkräften. In unterschiedlichen Varianten erklärte sie: „Es ist absolut falsch, dass ich zu irgendeinem Zeitpunkt eine andere Priorität hatte, als den Menschen vor Ort zu helfen.“ Das klang auch nach einem Wording. Sie habe in der Nacht bis um zwei Uhr früh in Sachen Flutkatastrophe telefoniert und Nachrichten versendet, erklärte Spiegel.

Doch kann sie das nicht belegen. Spiegel behauptet, sie könne die Einzelnachweise ihrer Anrufe nicht beibringen, da ihre Handyflatrate einzelne Gespräche nicht erfasse. Ein kurzes Googlen zeigt jedoch, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Es gibt eine Reihe von Apps, die ein Auslesen der Anrufe ermöglichen, selbst wenn Provider den Service bei Flatrates nicht anbieten.

Keine aktive elektronische Kommunikation in der Flutnacht

Gesichert ist, dass Spiegel am Abend der Flut mit dem Grünen-Fraktionsvorsitzenden des Landtags zu Abend aß und danach noch einmal mit ihm und mit ihrem Ehemann telefonierte. Spiegel verteidigt sich, indem sie sagt, sie habe sich auf Informationen ihrer Mitarbeiter verlassen, die beispielsweise rieten, auf eine Korrektur der Pressemitteilung zu verzichten und überhaupt sei sie nicht Teil der Meldekette.

Was die bekannten Chats angeht, erzählte Spiegel, handle es sich doch nur um zwei von „tausenden Nachrichten“, die während der Fluttage geschrieben worden seien. Die Sorge, Innenminister Lewentz könnte sie ausbooten sei nur „ein Gedanke“ gewesen, der rasch wieder verschwunden sei. Wieso sie dann aber jetzt nicht all jene Nachrichten öffentlich macht, die angeblich zeigen, dass sie sich vor allem um die Flutopfer sorgte, erklärt sich dadurch nicht. Nach Informationen der Berliner Zeitung am Wochenende aus dem U-Ausschuss hat Spiegel zwischen 16.30 Uhr und 7.30 Uhr, in den entscheidenden Stunden also, gar nicht aktiv elektronisch kommuniziert. Sie empfing E-Mails, SMS und Nachrichten von Messenger-Diensten – aber reagierte nicht.

Der Staatssekretär wird ermahnt: Bitte bei der Wahrheit bleiben

Zu einer Überraschung kam es im Ausschuss, als Manz plötzlich behauptete, dass Spiegel ihn am Abend der Flut doch zurückgerufen habe, obwohl in den Einzelnachweisen, die er dem Ausschuss vorher vorlegen musste, davon nichts zu finden ist. Aus „Unachtsamkeit“ habe er die eingehenden Anrufe vergessen, erklärte er. Das ging dem Ausschussvorsitzenden Martin Haller von der SPD – immerhin Koalitionspartner der Grünen in Rheinland-Pfalz und im Bund – zu weit. Er ermahnte Manz, wenn der nicht bei der Wahrheit bliebe, könne das rechtliche Konsequenzen haben.

Trotzdem hält die Grünen-Spitze bisher voll und ganz zu ihrer Familienministerin. „Anne Spiegel hat mit ihren Aussagen gestern gezeigt, dass sie sich mit Verantwortungsbewusstsein und Empathie für die Menschen in diesem Land einsetzt und dass ihre erste Sorge den Menschen und ihrer Not galt“, erklärten die Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour am Tag nach der Ausschusssitzung. Das ist interessant, denn die zentralen Fragen sind noch nicht geklärt: Wieso war Spiegel in der Nacht für ihren Staatsekretär nicht zu erreichen? Oder war sie es doch? Welche Nachrichten zur Lage verschickte sie in den entscheidenden Stunden? Wieso reagierten sie und ihre Mitarbeiter nicht auf die Nachricht einer Pressesprecherin ihres Ministeriums, die dringend bat, die Pressemitteilung zu überarbeiten?

Ministerin Spiegel als Ergebnis der grünen Realo-Fundi-Arithmetik

Für die Parteichefs könnte eine Rolle spielen, dass Spiegel aufgrund der grünen Realo-Fundi-Arithmetik ins Amt gelangte. Als der Linke Anton Hofreiter zugunsten von Cem Özdemir aufs Landwirtschaftsministerium verzichten musste, war klar, dass für das Familienministerium eine Frau aus dem linken Parteiflügel gebraucht wurde. So kam man auf Spiegel. Sie gilt als Linksaußen. Sollten die Parteivorsitzenden diese Personalie, die viele Fundis gerade erst besänftigt hatte, nun nicht vehement unterstützen, wäre Streit programmiert.

Der zweite Grund hat mit dem Ukraine-Krieg zu tun. Womöglich dachte man in der Parteizentrale, dieses Riesen-Thema würde den Landesuntersuchungsausschuss aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit drängen. Und die Rechnung hätte aufgehen können, wenn Spiegel in ihrem aktuellen Amt als Familienministerin präsent wäre, mit sichtbaren Initiativen zur Unterbringung und zum Schutz der vielen Mütter mit Kindern und unbegleiteten Minderjährigen, die täglich zu Zehntausenden in Deutschland ankommen, in Erscheinung treten würde. Doch da hat ihr Corona und „Post Corona“ einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Das Ministerium muss in der Ukraine-Krise auf die Ministerin verzichten

Das letzte bekannte Statement von Spiegel zu den Flüchtlingen stammt vom 4. März. Da erklärte sie: „Die Bundesregierung und auch mein Ministerium setzen alles daran, so unbürokratisch und schnell wie möglich zu helfen. Der Aggression und der Zerstörung, den Schmerzen und dem Leid setzen wir Mitgefühl, Solidarität und praktische Hilfe entgegen.“ Seitdem Schweigen. Zwar nahm sie laut dpa-Bildern vergangenen Mittwoch an der Kabinettssitzung und anschließender Klausur teil, doch sind keine Äußerungen zur Lage der Geflüchteten überliefert.

Nun gibt es selbstverständlich Vertretungsregelungen für kranke Ministerinnen. In Spiegels Fall führt Staatssekretärin Margit Gottstein aktuell die Geschäfte des Hauses. Doch ist das nicht das gleiche. Denn Gottsteins Aktivität richtet sich nach innen. Es sind keine öffentlichen Auftritte oder Statements von ihr bekannt oder ob sie sich ein Bild der Lage vor Ort an Bahnhöfen oder in Aufnahmeeinrichtungen gemacht habe. Im Ministerium verweist man darauf, dass die Unterbringung Aufgabe der Länder, nicht des Bundes sei. Außerdem koordiniere das Haus verschiedene Initiativen, unter anderem soll eine Evakuierung von Holocaustüberlebenden stattfinden. Bei den meisten Punkten, die das Ministerium kommuniziert, handelt es sich jedoch um bereits bestehende Projekte oder Einrichtungen, die Flüchtlingen und Frauen helfen. Einige Hilfs- und Beratungsangebote sind nun auch in ukrainischer Sprache verfügbar.

Die Lage der geflüchteten Frauen und Kinder wird schwieriger werden

Doch es wird mehr erforderlich sein, denn die Lage der Flüchtlinge wird sich nicht verbessern. Am Mittwoch wurde nach Angaben der Bild-Zeitung eine junge Frau aus der Ukraine in Düsseldorf vergewaltigt. Immer wieder gibt es Berichte über Männer, die an Bahngleisen stehen und versuchen, junge Frauen mitzunehmen. Die Beschulung der ukrainischen Kinder wird einer großen Kraftanstrengung bedürfen, administrativ wie emotional.

Einmal trat Spiegel in den letzten zwei Wochen übrigens doch medial auf. Am Tag ihrer Vernehmung erschien eine Bilderstrecke im SZ-Magazin. In dem Format „Sagen Sie jetzt nichts“ reagieren Prominente auf Fragen. Die Reaktionen werden in Schwarz-Weiß-Fotos festgehalten. Auf die Frage „Wie haben Sie reagiert, als Annalena Baerbock Sie anrief [und Ihnen das Ministeramt anbot]?“ strahlt Spiegel so sehr, dass man daraus Solarstrom gewinnen könnte.


Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.

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