Nach Angaben der russischen Regierung haben in Mariupol mehr als 1000 Soldaten „freiwillig ihre Waffen niedergelegt“. Das ukrainische Verteidigungsministerium hat bisher keine Informationen dazu. Ein Überblick.
In der seit Wochen umkämpften südostukrainischen Hafenstadt Mariupol haben sich nach Angaben der russischen Regierung mehr als 1000 ukrainische Soldaten ergeben. 1026 Soldaten der 36. Marinebrigade hätten „freiwillig ihre Waffen niedergelegt und sich ergeben“, erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau am Mittwoch. Einen Zeitpunkt nannte das Ministerium nicht.
Ein Sprecher des ukrainischen Verteidigungsministeriums hat zunächst keine Informationen über Soldaten in Mariupol, die sich russischen Angaben zufolge ergeben haben sollen. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Am Montag hatte die 36. Marinebrigade der ukrainischen Truppen in Mariupol erklärt, sie bereite sich auf die „letzte Schlacht“ vor. Mariupol wird seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar von der russischen Armee belagert. Inzwischen ist die einst 400.000 Einwohner zählende Stadt weitgehend zerstört, die humanitäre Lage katastrophal.


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Nach dem Rückzug seiner Truppen aus der Region Kiew hatte Russland angekündigt, den militärischen Fokus verstärkt auf den Donbass zu richten. Ziel Moskaus ist laut Experten die Errichtung einer direkten Landverbindung zwischen der 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim und den von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebieten in den Regionen Luhansk und Donezk. Das am Asowschen Meer gelegene Mariupol gilt dabei als strategisch entscheidend.
Keine Fluchtkorridore am Mittwoch
Aus den umkämpften Städten der Ukraine soll es nach Angaben der Regierung am Mittwoch keine Fluchtkorridore geben. In der Region Saporischschja blockierten russische Truppen die Evakuierungsbusse, schrieb die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk auf Telegram. In der Region Luhansk werde die Feuerpause nicht eingehalten. Es sei zu gefährlich, die Fluchtkorridore einzurichten, schrieb Wereschtschuk weiter.
In den vergangenen Tagen waren immer wieder Fluchtkorridore für die Zivilbevölkerung in umkämpften Städten im Osten der Ukraine eingerichtet worden. Viele Tausend Menschen konnten nach ukrainischen Angaben so bereits flüchten. Allein am Dienstag flohen laut Wereschtschuk 2671 aus der besonders umkämpften Hafenstadt Mariupol, der Region Saporischschja sowie der Region Luhansk.
Biden bezichtigt Putin erstmals des Völkermords
US-Präsident Joe Biden hat Russlands Präsidenten Wladimir Putin angesichts der Gräueltaten in der Ukraine mit deutlichen Worten „Völkermord“ vorgeworfen. „Ich habe es Völkermord genannt, denn es wird immer deutlicher, dass Putin einfach versucht, die Idee, überhaupt Ukrainer zu sein, einfach auszuradieren“, sagte Biden am Dienstag (Ortszeit) bei einem Besuch im US-Bundesstaat Iowa.
Biden hatte am Nachmittag bereits im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg von Völkermord gesprochen – allerdings noch weniger deutlich. Von mitreisenden Journalistinnen und Journalisten auf seine Aussage vom Nachmittag angesprochen, sagte Biden weiter: „Die Beweise häufen sich. Es sieht anders aus als letzte Woche. Es kommen buchstäblich immer mehr Beweise für die schrecklichen Dinge ans Licht, die die Russen in der Ukraine getan haben.“ Letztlich müssten Juristen auf internationaler Ebene entscheiden, ob es sich um Genozid handele oder nicht, aber für ihn sehe es ganz so aus, sagte Biden weiter.
Vorherige US-Präsidenten sind davor zurückgeschreckt, ein Vorgehen wie das russische in der Ukraine offiziell als Genozid zu bezeichnen. Damit wollten sie vermeiden, unter moralischen und politischen Zwang zu geraten. Denn eine UN-Konvention sieht die anderen Staaten in der Pflicht einzugreifen, wenn es zum Genozid kommt. Die Nato hatte aus diesem Grund beispielsweise im Kosovo-Krieg letzten Endes eingegriffen.
Der US-Präsident hatte zuvor bei einer Rede in Menlo, Iowa, über die steigenden Verbraucherpreise gesprochen und in diesem Zusammenhang gesagt: „Ihr Familienbudget, Ihre Möglichkeit zu tanken, nichts davon sollte davon abhängen, ob ein Diktator die halbe Welt entfernt Krieg erklärt und Völkermord begeht.“
Die US-Regierung und ihre Verbündeten täten alles, damit Putin seine Energieressourcen nicht als Waffe gegen amerikanische Familien, Familien in Europa und auf der ganzen Welt einsetzen könne, so Biden weiter.


Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj lobte Bidens Worte: „Die Dinge beim Namen zu nennen ist wichtig, wenn man sich gegen das Böse behaupten will“, schrieb er auf Twitter. Selenskyj hatte den russischen Truppen angesichts von Gräueltaten gegen Zivilisten schon früher Genozid vorgeworfen.
Die US-Regierung hatte sich an dieser Stelle bislang zurückgehalten. Der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Biden, Jake Sullivan, sagte am Wochenende zwar, die jüngst bekannt gewordenen Gräueltaten unter anderem im Kiewer Vorort Butscha seien eindeutig Kriegsverbrechen. Der Frage, ob es sich auch um Genozid handele, wich Sullivan allerdings aus.


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Zu den russischen Kriegsverbrechen zählt vor allem die Ermordung vieler Zivilisten in der Stadt Butscha und anderen Vororten der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Dort sind nach Angaben des Innenministeriums mehr als 720 Menschen getötet worden. In den Gebieten, die von russischen Truppen besetzt gewesen waren, gälten mehr als 200 weitere Menschen als vermisst, teilte das Ministerium am frühen Mittwochmorgen mit. Allein in Butscha seien 403 Leichen gefunden worden, sagte Bürgermeister Anatolij Fedoruk, diese Zahl könne steigen, wenn Minensucher das Gebiet durchkämmten.
Ein weiteres Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine könnte der Einsatz chemischer Waffen in der umkämpften südukrainischen Stadt Mariupol sein. Das in Mariupol eingesetzte Asow-Regiment hatte am Montag von drei Verletzten berichtet, bei denen Atembeschwerden und Lähmungen aufgetreten seien. Die russische Seite bestritt den Einsatz von Chemikalien.
Nach wie vor ist aber unklar, ob diese Berichte stimmen. Es sei derzeit nicht möglich, 100-prozentig sichere Schlüsse darüber zu ziehen, erklärt der ukrainische Präsident. Im Moment sei es nicht möglich, eine angemessene Untersuchung in der belagerten Stadt durchzuführen.
Er fordert von der internationalen Gemeinschaft jedoch vorbeugende Schritte gegen den möglichen Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch Russland. Dies sei nötig wegen des wiederholten Einsatzes von Phosphormunition und wegen der russischen Drohung, in Mariupol Chemiewaffen einzusetzen. Das sagte Selenskyj in seiner Videoansprache in der Nacht zum Mittwoch. „Reagieren Sie präventiv! Denn nach dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen ändert eine Reaktion nichts mehr.“
Die seit Wochen umkämpfte ukrainische Stadt Mariupol ist nach Kiewer Angaben in der Nacht zum Mittwoch erneut Ziel russischer Luftangriffe gewesen. Wie das ukrainische Militär mitteilte, griffen russische Truppen auch den Hafen der Stadt und das Stahlwerk Asowstal an. In dem ausgedehnten Industriekomplex haben sich ukrainische Soldaten verschanzt.


Selenskyj reagierte in dieser Videoansprache auch auf Äußerungen von Kremlchef Wladimir Putin, der in Russland „Spezialoperation“ genannte Krieg verlaufe nach Plan. „Ganz ehrlich, niemand in der Welt versteht, wie ein solcher Plan aufgestellt werden konnte“, sagte Selenskyj. Was tauge ein Plan, der den Tod Zehntausender eigener Soldaten vorsehe, fragte der Staatschef. Dabei sei klar, dass in Moskau die Zahl der getöteten Ukrainer ohnehin nicht interessiere.
Putin hatte sich am Dienstag siegesgewiss gezeigt, dass die Ziele der Spezialoperation erreicht würden. „Daran gibt es keinen Zweifel“, sagte er bei einer Besichtigung des russischen Weltraumbahnhofs „Wostotschny“ im Fernen Osten des Landes. Die russische Armee folge in der Ukraine „dem Plan, genau wie ihn der Generalstab aufgestellt hat“.


Selenskyj zitierte ukrainische Zahlen, wonach bereits 20.000 russische Soldaten getötet worden seien. Westliche Schätzungen gehen von mehreren Tausend Toten aus. Der Kreml selbst spricht nur von schweren Verlusten.
Putin gebe vor, alles für die Menschen und für den Donbass zu tun, sagte Selenskyj. Dabei habe das ostukrainische Kohle- und Stahlrevier selbst im Zweiten Weltkrieg nicht so schnell so heftige Gewalt erlitten wie nun von den russischen Truppen. Mit Blick auf die Belagerung von Mariupol sagte Selenskjy, die russischen Streitkräfte wiederholten die Blockade von Leningrad.
Die Belagerung von Leningrad (heute wieder St. Petersburg) durch die deutsche Wehrmacht mit über einer Million Toten zwischen 1941 und 1944 gilt als eines der schlimmsten nationalsozialistischen Kriegsverbrechen.
Während der Nacht sei die Großstadt Charkiw im Osten des Landes von russischer Artillerie beschossen worden, hieß es von ukrainischer Seite. Der ukrainische Morgenbericht deutete aber darauf hin, dass sich die militärische Lage nicht stark verändert hat. Für die kommenden Tage oder Wochen wird eine groß angelegte russische Offensive im Osten der Ukraine erwartet.
dpa/AFP/AP/Reuters/fhs/mmi