Weil das Krankenhaus des Maßregelvollzugs überlastet ist, kamen allein im Februar zwei Verurteilte frei. Der Richterbund kritisiert den Senat, Landeschefin Giffey mahnt zur Eile.
In Berlin wird auch nach der Wahl heftig über das Krankenhaus des Maßregelvollzugs debattiert – weitere Gefangene stehen davor, allein wegen Platzmangels entlassen zu werden.
Nach Tagesspiegel-Informationen befinden sich mindestens 15 verurteilte Männer ersatzweise in „Organisationshaft“, also in regulären Anstalten, weil der Maßregelvollzug überlastet ist. Einige dieser Gefangenen sitzen schon seit Monaten in regulärer Haft, sie haben deshalb bald Anspruch auf Freilassung – und zwar mitunter Jahre vor Ablauf ihrer Strafen.Die Tagesspiegel-App Aktuelle Nachrichten, Hintergründe und Analysen direkt auf Ihr Smartphone. Dazu die digitale Zeitung. Hier gratis herunterladen.
Am Dienstag gab Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) bekannt, dass am 10. Februar ein wegen Drogendelikten verurteilter Mann vorzeitig entlassen werden musste. Erst einige Tage zuvor kam ein kokainaffiner Räuber aus dem Remmo-Clan frei, weil der Maßregelvollzug voll war. Der Mann war 2021 zu insgesamt mehr als acht Jahren Haft verurteilt worden.
In den Maßregelvollzug gehören Verurteilte, wenn ein Gericht sie als psychiatrisch auffällig oder suchtkrank einstuft. Die Insassen gelten als Patienten, die nach dem Urteil in der Regel nicht länger als sechs Monate in einer Haftanstalt verbringen sollen, bevor sie in das Spezialkrankenhaus kommen.
Richter übt scharfe Kritik an der Gesundheitsverwaltung
Für den Maßregelvollzug ist deshalb nicht Justizsenatorin Kreck zuständig, sondern die Gesundheitsverwaltung unter Ulrike Gote (Grüne). Kreck sprach nach der turnusgemäßen Senatssitzung am Dienstag davon, dass die Missstände „einen Grad erreicht“ hätten, wo Handlunsgzwang bestehe. Ihr aber seien die „Hände gebunden“, der Maßregelvollzug unterstehe Gesundheitssenatorin Gote. Zuvor hatte Regierungschefin Franziska Giffey (SPD) dahingehend Gote ermahnt.Jeden Morgen ab 6 Uhr Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team berichten im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über Berlins Irrungen und Wirrungen. Hier kostenlos anmelden.
Ein Sprecher Gotes teilte mit, dass „das über viele Jahre entstandene Problem nur mit einer langfristigen Ertüchtigung von Gebäuden, einer Aufstockung von Personal und einer gesetzlichen Reform der wachsenden Zahl von Überstellungen in den Maßregelvollzug“ behoben werden könne. Gote hatte das im Gesamtsenat angesprochen, ressortübergreifend müsse „mit vereinten Kräften an einer gemeinsamen Lösung“ gearbeitet werden.
Scharfe Kritik an der Senatsgesundheitsverwaltung übt Stefan Schifferdecker, der Berliner Vorsitzende des Deutschen Richterbunds. Der Sozialrichter sagte dem Tagesspiegel: „Die Brisanz des Themas ist extrem hoch, weil es kein Einzelfall ist. Fehlende Plätze im Maßregelvollzug sind ein strukturelles Problem, das seit Jahren bekannt ist.“
„Ich sehe ein hohes Risiko, dass einzelne Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren.“
Stefan Schifferdecker, Berliner Vorsitzender des Deutschen Richterbunds
Das hinterlasse den Eindruck, sagte Schifferdecker, „dass die Politik den Schutz der Bevölkerung nicht so ernst nimmt.“ Der Maßregelvollzug diene nicht der Strafe, sondern dem Schutz der Bürger vor kranken Straftätern.
Schifferdecker führt aus, es sei aus Sicht der Bürger „völlig unverständlich, wenn ein Gericht einen Häftling freilassen muss, weil bei ihm der Maßregelvollzug nicht rechtmäßig durchgeführt werden kann“. Derlei Entscheidungen aber seien Zeichen des funktionierenden Rechtsstaats, denn ein kranker Straftäter dürfe nicht ohne Behandlung weggesperrt werden.
Allerdings sagte Schifferdecker auch: „Unser Rechtsstaat wird aber nur akzeptiert, wenn das Recht auch durchgesetzt wird. Berlin muss sich ausreichend Plätze im Maßregelvollzug leisten, auch wenn das Geld kostet.“ Es sei schwer, Wählerstimmen mit Justizfragen zu gewinnen, „daher kümmert sich die ein oder andere Senatorin lieber um andere Themen“. Schifferdecker forderte eine schnelle Lösung des Problems. Er sehe sonst „ein hohes Risiko, dass einzelne Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren“.
80 Stellen im Maßregelvollzug sind nicht besetzt
Zu wenig Plätze im Maßregelvollzug seien auch „ein Schlag ins Gesicht für Kriminalbeamte, Staatsanwälte und Richter, wenn sie in einem aufwändigen Verfahren Täter ermitteln und verurteilen, darf der Sinn ihrer Arbeit danach nicht infrage stehen“, sagte der Topjurist.
Im Krankenhaus des Maßregelvollzugs sind 80 Stellen unbesetzt; rund 500 Beschäftigte kümmern sich um 600 zuweilen gefährliche, psychiatrisch auffällige Insassen. Gesundheitssenatorin Gote hatte im November letzten Jahres gesagt, dass die Zustände dort „nicht zumutbar“ und wegen des Personal- und Platzmangels menschenrechtlich „bedenklich“ seien.
Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei sagte: „Es ist natürlich ein Schlag ins Kontor des demokratischen Rechtsstaates, wenn ein verurteiler Schwerstkrimineller bestehende Gesetze und mangelnde Kapazitäten des Staates ausnutzt, um trotz diverser Verbrechen aus dem Vollzug zu spazieren. Berlins zukünftige Landesregierung sollte hier schnellstmöglich Lücken schließen und benötige Ressourcen aufbauen.“