Der Koalitionsvertrag wird in der internationalen Presse unterschiedlich aufgenommen: Während Spaniens größte Zeitung „Europäertum ohne Komplexe“ erwartet, gehen US-Medien von „Kontinuität“ aus – in der Ukraine regt sich Misstrauen gegen Scholz.
Das US-amerikanische „Wall Street Journal“ attestiert der Ampel-Koalition Zaghaftigkeit und schreibt: „Ein strengerer Ton wäre eine bescheidene Verbesserung im Vergleich zu Merkel. Wenn all das nach fehlendem Ehrgeiz klingt, liegt das daran, dass es so ist. Die Deutschen haben abgestimmt, als wollten sie eine Regierung, die wichtige Auseinandersetzungen über die wirtschaftliche oder strategische Ausrichtung des Landes aussitzt. Der Wunsch der Wähler wurde zur Koalition von Scholz.“
Die „New York Times“ rechnet hingegen mit einer engeren Kooperation mit Washington: „Das Deutschland von Herrn Scholz könnte sich als eher bereit erweisen, sich für die Europäische Integration stark zu machen und die Reihen mit den Vereinigten Staaten zu schließen, um Druck auf China und Russland auszuüben. Aber das Schlagwort lautete Kontinuität.“
Die britische „Times“ hingegen erwartet: „Olaf Scholz wird gegenüber Großbritannien nicht zimperlich sein. Der Koalitionsvertrag enthält ausdrücklich eine Bestimmung zur Aufrechterhaltung des Nordirland-Protokolls. Boris Johnson könnte in Berlin auf eine härtere Haltung stoßen als Angela Merkels müde Nachsicht. Scholz kommt mit Erfahrung, einer liberalen Agenda und hohen Beliebtheitswerten ins Amt. Deutschland und seine Nachbarn können sich auf lebhafte vier Jahre einstellen.“
Koalition „verläuft sich im Unterholz“
Die spanische Tageszeitung „El País“ liest aus dem Koalitionsvertrag einen Fokus auf Europapolitik heraus: „Das Deutschland von Olaf Scholz entfernt sich vom Image eines mürrischen Mitglieds des europäischen Clubs, das es in den schlimmsten Jahren der Eurokrise hatte. Ohne sich großartig von seiner traditionellen fiskalischen Orthodoxie abzuwenden, sendet die Dreiergruppe, die sich anschickt, die Zügel der führenden Macht des Kontinents zu übernehmen, Zeichen größerer Offenheit und eines Europäertums ohne Komplexe. In dem an diesem Mittwoch von Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen vorgelegten Dokument erscheint das Wort Europa 254 Mal im Vergleich zu den 144 Mal, in denen Deutschland erwähnt wird. […] Der von den drei Parteien unterzeichnete Vertrag stellt keine Revolution dar. Aber er setzt Zeichen einer stärkeren Hinwendung zu Europa – inklusive Änderung der Verträge, die in eine Föderation europäischer Staaten münden soll.“
Die belgische Zeitung „De Standaard“ rechnet sogar mit historischen Veränderungen: „Die Schwerpunkte, die dieses neue Team setzen will, sind laut den Verhandlungsführern nicht die Summe der Parteipositionen, sondern eine heftig diskutierte Vision, wie Deutschland gleichzeitig grün, sozial und liberal sein kann. Es wird ein spannendes Experiment: Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte wird Deutschland von einem Dreierbündnis regiert werden, das sich aus Politikern zusammensetzt, die einen klaren Bruch mit der Vergangenheit vollziehen wollen.“
„La Repubblica“ aus Italien geht ebenfalls von einem Aufbruch aus – und greift zu einer Metapher: „Die großen Krisen sorgen für starke Beschleunigung bei historisch-politischen Prozessen: Nach der langen Regierungszeit von Angela Merkel kehrt ein Sozialdemokrat an die Spitze einer deutschen Regierung zurück. Die dramatische Ausbreitung der Pandemie hat leibhaftig als Geburtszange funktioniert, um die Parteien der entstehenden Koalition zu einer fiebrigen Suche nach einer Einigung für ihr Programm zu zwingen. […] Die Initiativen zur Bekämpfung der Ausbreitung der Pandemie, die in Deutschland dramatische Ausmaße erreicht hat, werden natürlich die wichtigste Prüfung für die neue Regierung darstellen, auch weil sie das empfindliche Gleichgewicht des deutschen föderalen Systems berühren: in erster Linie das Verhältnis zwischen Bund und Ländern.“
An einem starken Wandel formuliert die „Neue Zürcher Zeitung“ aus der Schweiz starke Zweifel. „Die Koalitionäre erkennen die drängenden Probleme im Land, auf dem Weg zur Lösung verlaufen sie sich aber immer wieder im Unterholz“, konstatiert sie. „Das mag an weltanschaulichen Differenzen liegen oder auch am fehlenden Mut, die richtig dicken Bretter zu bohren. Davor hat sich schon die scheidende Kanzlerin Angela Merkel 16 Jahre lang gedrückt. Machterhalt hieß ihre stille Devise, der sich alles andere unterordnete. Sollten es SPD, Grüne und FDP ähnlich halten, wäre das stets wiederholte Mantra von Aufbruch und Fortschritt nur Gerede. […] Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Partner läuft erstaunlich geräuscharm. Die Harmonie scheint jedoch mit Kompromissen erkauft zu sein, die eher dem Bündnis zugutekommen als dem Land.“
Moskau will „keine voreiligen Schlüsse ziehen“
„Aus dem Vertrag folgt, dass Berlin zu einem konstruktiven Dialog mit Moskau bereit ist und auch russischen Bürgern bis 25 Jahre eine visafreie Einreise erlauben will“ – so deutet die russische Zeitung „Kommersant“ einen entsprechenden Absatz zur Russlandpolitik. Zu Moskaus Erwartungen an Berlin heißt es: „Die wahrscheinliche neue Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ist zwar nicht nur einmal mit kritischen Äußerungen an die Adresse Moskaus aufgetreten, doch ruft man in den staatlichen Strukturen der Russischen Föderation dazu auf, daraus keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Es wird darauf hingewiesen, dass stets der Kanzler persönlich die deutsche Politik im Verhältnis zu Russland gesteuert hat. Insgesamt ist der Teil, der den Beziehungen zu Russland gewidmet ist, von Konstruktivität geprägt: Die Autoren der Vereinbarung sprechen mehr von Möglichkeiten einer Zusammenarbeit als von Meinungsverschiedenheiten. Das heikle Thema der Ostseepipeline Nord Stream 2 wird ausgespart, was der neuen Regierung mehr Bewegungsspielraum gibt bei den Verhandlungen mit Russland und den USA.“
Die ukrainische „Ukrainska Pravda“ nennt den Machtwechsel in Berlin das „wohl wichtigste politische Ereignis des Jahres auf dem europäischen Kontinent“. Da sich kein „würdiger Nachfolger“ Merkels gefunden habe, solle nun eine Koalition aus drei Parteien regieren, „die sich noch nie zusammengeschlossen haben: der Linken (SPD), den Liberalen (FDP) und den Grünen“, schreibt das Online-Nachrichtenportal. „Diese Dreieinigkeit hat in ihren Programmen viel gemeinsam, aber es mangelt auch nicht an Differenzen – nicht zuletzt in puncto Außenpolitik. Noch wichtiger ist, dass Merkels Nachfolger, der Chef der neuen Regierung, der Sozialdemokrat Olaf Scholz wird. Und in der Ukraine bleibt den Sozialdemokraten angesichts der Kooperation des früheren SPD-Kanzlers Gerhard Schröder mit Putin und Gazprom ein besonders schwerer Verdacht zurück … All dies führte zu vorsichtigen Erwartungen an die Politik der neuen deutschen Regierung. Aber die Realität sah anders aus, sehr positiv. […] Sowohl im aktuellen als auch im letzten Koalitionsvertrag ist unserem Staat ein eigener kleiner Block gewidmet.“