"Unterirdisch"

Kritik an Söders Attacke auf die Impfkommission

15.07.2021
Lesedauer: 5 Minuten
Archivbild: Ministerpräsident Söder © picture alliance/dpa/dpa-POOL | Daniel Karmann

Im Streit über Corona-Impfungen von 12- bis 17-Jährigen hat Bayerns Ministerpräsident Söder seinen Konfrontationskurs gegen die Ständige Impfkommission verschärft. Das sorgt für viel Kritik – bei Politikern anderer Parteien, aber auch bei Experten.

Deutlich war Markus Söders (CSU) Kritik an der Ständigen Impfkommission (Stiko) schon in den vergangenen Tagen, jetzt hat der bayerische Ministerpräsident noch eine Schippe draufgelegt – und dem Experten-Gremium indirekt Kompetenz abgesprochen. „Wir schätzen die Stiko, aber das ist eine ehrenamtliche Organisation“, sagte Söder am Mittwochabend dem BR-Politikmagazin „Kontrovers“. „Die EMA – die Europäische Zulassungsbehörde – das sind die Profis. Die haben entschieden: Ja, der Impfstoff ist zugelassen. Kinder- und Jugendärzte, überwiegend jedenfalls, empfehlen die Impfung.“ Söder fordert von der Impfkommission schon seit Tagen, ihre Haltung zur Impfung von 12- bis 17-Jährigen zu überdenken.

Der bayerische FDP-Fraktionsvorsitzende Martin Hagen kritisierte die Äußerung des CSU-Chefs scharf. „Söders Attacke auf die Stiko ist unterirdisch“, twitterte Hagen und betonte mit Blick auf die Gegenüberstellung der EMA-Zulassung und der Stiko-Empfehlung: „Wer den Unterschied zwischen einer Zulassung und einer Empfehlung nicht versteht, sollte sich vielleicht besser aus der Debatte raushalten.“

Freie Wähler: Auf Wissenschaft hören

Auf Unmut stoßen Söders Worte auch beim Koalitionspartner der CSU im Freistaat, den Freien Wählern. Die bayerische FDP-Generalsekretärin Susann Enders mahnte: „Ich warne davor, dass die Politik so arrogant ist, der Medizin zu sagen, was gesund ist.“

Und der parlamentarische Geschäftsführer der Freie-Wähler-Landtagsfraktion, Fabian Mehring, stellte klar: „In der Pandemie berät Wissenschaft die Politik – nicht andersherum!“ Corona sei ein medizinisches Phänomen, es bleibe also Trumpf, auf den Rat der Wissenschaft zu hören. „Seitens der Politik etwas von der Stiko zu ‚fordern‘, ist so sinnvoll, wie bei den Meteorologen der Tagesschau das Wetter zu bestellen.“

„Schadet der Akzeptanz“

Nach Meinung des Grünen-Bundestagsabgeordneten Dieter Janecek ist es zwar gut, wenn sich Jugendliche impfen lassen, aber er wolle es ihnen nicht vorschreiben. Er habe selbst eine 13-jährige Tochter, die sich impfen lassen wolle. „Es ist Aufgabe der Ständigen Impfkommission eine Empfehlung auszusprechen und nicht von wahlkämpfenden Politikern wie Markus Söder und Karl Lauterbach“, betonte Janecek und warnte: „Das schadet der Akzeptanz und hilft nicht dabei, Vertrauen zu schaffen.“

Der AfD-Landtagsabgeordnete Andreas Winhart beklagte, Söder erhöhe weiter den politischen Druck auf die Stiko, damit diese eine Empfehlung nach seinem Willen abgebe. Das Impfen sei aber nach medizinischen Kriterien zu beurteilten, „nicht politisch“, mahnte er.

Bisher keine generelle Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige

Die Ständige Impfkommission hat bisher keine generelle Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren ausgesprochen. Sie empfiehlt Corona-Impfungen für 12- bis 17-Jährige nur bei bestimmten Vorerkrankungen. Die Stiko begründete dies unter anderem damit, dass das Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung für diese Altersgruppe gering sei. Für junge Menschen ohne Vorerkrankung ist eine Corona-Impfung aber „nach ärztlicher Aufklärung und bei individuellem Wunsch und Risikoakzeptanz möglich“. Vergangene Woche verwahrten sich mehrere Stiko-Mitglieder gegen eine Einmischung der Politik in dieser Frage – und verwiesen auf die Unabhängigkeit des Experten-Gremiums. Heute äußerten sich mehrere Stiko-Mitglieder auf Anfrage zunächst nicht zu Söders indirektem Vorwurf, sie seien im Vergleich zu dem „Profis“ der EMA Amateure.

Mehrere Mitglieder der Stiko stammen auch aus Bayern. Unter ihnen ist Rüdiger von Kries, Leiter der Abteilung Epidemiologie und kommissarischer Leiter des Instituts für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin an der Universität München, Klaus Überla, Direktor des Virologischen Instituts am Universitätsklinikum Erlangen, und Christian Bogdan, Professor für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Wissenschaftler beklagt „Diskreditierung“ der Stiko

Angesichts der scharfen Kritik sprangen mehrere Mediziner und Wissenschaftler der Stiko zur Seite. Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernard-Nocht-Institut für Tropenmedizin twitterte mit Blick auf Söders Äußerung: Die Impfkommission sei „zum Glück ehrenamtlich und unabhängig“, die Mitglieder seien „Profis seit Jahrzehnten“.

Der Leiter der Infektiologie am Universitätsklinikum Freiburg, Winfried V. Kern, sprach von einer „Diskreditierung“, die ihn an den ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten erinnere: „Die Stiko-Mitglieder werden sich Konsequenzen überlegen (müssen)“, twitterte er.

Fachgesellschaft: Stiko-Mitglieder sind „Profis der Wissenschaft und ärztlichen Versorgung“

Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), Martin Scherer, bezeichnete es als „problematisch“, wenn die Politik so agiere wie Söder. Die Ständige Impfkommission sei ein unabhängiges Expertengremium für das Thema Impfen – „Profis der Wissenschaft und der ärztlichen Versorgung in Klinik und Praxis aus vielen Fachgebieten“, betonte Scherer auf Twitter. Die DEGAM vertraue auf diese Expertise.

Kinderarzt: Kritik an Stiko „gefährlich“

Der Abteilungsleiter Infektiologie im Haunerschen Kinderspital der LMU München, Johannes Hübner, bezeichnete die Kritik aus der Politik an der Stiko als „gefährlich“. Sie sei eine „sehr renommierte, sehr erfahrene Institution, die seit Jahrzehnten Impfempfehlungen ausspricht“, sagte er im „Kontrovers“-Interview. Und er habe die Sorge, dass durch die aktuelle Diskussion das Vertrauen der Eltern und Kinder in die Empfehlungen Kommission gestört werde.

Kinderärzte seien sehr froh, dass die Impfung für Kinder ab 12 Jahren zugelassen sei, teilten aber die Meinung der Stiko: „Es gibt eine ganze Reihe von Kindern mit Risikofaktoren, die impfen wir ja auch schon. Bei den anderen, bei den gesunden Kindern sollten wir uns ein bisschen Zeit noch lassen.“ Im Moment sei die Risiko-Nutzen-Abwägung für Kinder noch unklar, das könne sich aber in den nächsten Wochen bereits ändern. Die Stiko sei genau dafür eingerichtet worden, die Risiken objektiv abzuwägen. „Wir tun uns da keinen Gefallen, wenn wir das Vertrauen in so eine Institution jetzt untergraben.“

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