Wer die Entscheidung über den eigenen Körper dem Wohl des Kollektivs opfert, öffnet die Tore zur Hölle. Seien wir wachsam. Ein Text gegen die Impfpflicht.
Die Impfbereitschaft stagniert. Viele Virologen schauen mit Sorge auf das kommende Jahr. Eine höhere Impfquote in Deutschland wird die vierte Welle vermutlich nicht mehr brechen können, doch für ein sicheres Leben mit dem Virus wäre sie aus der Sicht der meisten anerkannten Virologen auch für die Zukunft unabdingbar. Die Redaktion der Berliner Zeitung am Wochenende wollte also wissen: Wäre es jetzt an der Zeit, eine Impfpflicht einzuführen? Wiegt die Solidarität mit der Allgemeinheit schwerer als die Freiheit des Einzelnen? Hier ein Contra-Essay gegen die Impfpflicht von Philipp Mattheis.DebatteFür die Impfpflicht: Der Gesetzgeber sollte bald handeln
Wer über die Pandemiebekämpfung und ihre ethischen Grenzen in Deutschland sprechen möchte, sollte vielleicht kurz innehalten und nach China schauen. Man muss wissen: Die Pandemie war und ist für die Kommunistische Partei Chinas eine ausgezeichnete Gelegenheit, ihr autoritäres Gesellschaftsmodell in die Welt zu exportieren. Das wochenlange Einschließen von Millionen von Menschen in Wuhan wurde als Lockdown global bekannt und angewendet. Health-Code-Apps, die die Bewegungen von Menschen kontrollieren, existieren ebenfalls bereits in zahlreichen Ländern. Und das Recht, frei über den eigenen Körper entscheiden zu können, wird gerade in Form einer Impfpflicht geschliffen. Wohin diese Art zu denken, die Freiheit des Individuums systematisch dem Wohl des Kollektivs unterzuordnen, im Extremfall führen kann, zeigen die Ereignisse der vergangenen Jahre in Xinjiang.
Für das Volk der Uiguren hat sich ihre Heimat, die nordwestchinesische Provinz Xinjiang, in den vergangenen Jahren in einen digitalen Albtraum verwandelt. Rund 1,5 Millionen Menschen, meist moslemischen Glaubens, haben in den vergangenen Jahren ein Lagersystem durchlaufen, das die Überlebenden schwer traumatisiert verlassen.
Nur den wenigsten gelingt es, nach dieser Tortur ins Ausland zu emigrieren. Zuvor werden sie eingeschüchtert und bedroht: Wer über die Geschehnisse spricht, riskiert das Leben seiner Familienangehörigen. Trotzdem finden immer wieder Menschen den Mut, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Wer sich eingehender mit den Zuständen in den Lagern beschäftigen möchte, findet die umfangreichste Sammlung von Berichten Überlebender auf der Website www.uyghurtribunal.com.
Freiheit nämlich ist anders als Zwang leider nicht expansiv
Das Tribunal ist der bisher umfangreichste Versuch, die Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang zu dokumentieren und aufzuarbeiten. (Man sollte die Berichte allerdings in einer emotional stabilen Verfassung lesen.) Nur so viel: Alle Überlebenden erzählen von Folter und Gehirnwäsche. Sie alle verbrachten Monate in winzigen Zellen ohne die einfachsten hygienischen Standards. Fast alle Frauen berichten von Zwangssterilisierungen, viele auch von Massenvergewaltigungen. Immer wieder wurden ihnen – Männer wie Frauen – Injektionen verabreicht, angeblich, um sie gegen die Grippe zu schützen. Was es mit den Substanzen wirklich auf sich hat, erfahren die Gefangenen nie. Wahrscheinlich hat man sie als Versuchskaninchen für Medikamente benutzt.
Wer den monatelangen Albtraum überlebt, findet sich im größten Freiluftgefängnis der Welt wieder: Apps überwachen die jetzt „deradikalisierten“ Menschen bei jedem Schritt. Kameras mit Gesichtserkennungssoftware schlagen sofort Alarm, wenn jemand eine Busreise antritt, die vorher nicht genehmigt war. Verdächtige Chat-Verläufe, in denen zum Beispiel das Wort „Allah“ vorkommt, werden überwacht und umgehend gemeldet.


Wie aber konnte es überhaupt zu diesen Verbrechen kommen? Wie denken die Erschaffer dieses Systems? Welches Weltbild treibt sie an? Diese Fragen werden für eine freie Gesellschaft immer bedeutender werden. Freiheit nämlich ist anders als Zwang leider nicht expansiv. Sie muss ständig verteidigt werden – und wir sollten wissen, wogegen.
Präsident Xi Jinping und die Unterdrückung der Uiguren
Die derzeitige Kampagne für eine Impfpflicht scheint natürlich vom digitalen Totalitarismus chinesischer Prägung meilenweit entfernt – und doch zeigt sie gewisse Parallelen und Analogien, und es hilft, diese bei der aktuellen Debatte nicht aus den Augen zu verlieren.
Die Uiguren sind ein moslemisches Turkvolk von etwa 15 Millionen, das seit Jahrhunderten das Tarimbecken bewohnt. Seit 1949 ist die Region offiziell ein Teil der Volksrepublik China. Unmittelbar nach der Eingliederung der Region begann Peking aktiv, Han-Chinesen in der Region anzusiedeln. In den folgenden Jahrzehnten kam es deswegen immer wieder zu Aufständen und Unruhen.
2014 besuchte der amtierende Präsident Xi Jinping die Region, um sich selbst ein Bild der Lage zu machen. Die Rede, die Xi dann hielt, macht deutlich, was er als Ursache des Problems sah: nicht die Diskriminierung der Minderheit oder die Wünsche nach mehr kultureller Autonomie der Uiguren, sondern eine „nicht optimale Bevölkerungszusammensetzung“. Xinjiang müsse von „Bevölkerungen minderer Qualität und von Menschen mit negativer Energie gesäubert werden“.
Die Geburtenraten der Uiguren fallen seit 2017
Ein stellvertretender Parteisekretär meinte dazu: „Das Problem im Süden Xinjiangs ist hauptsächlich die unausgewogene Bevölkerungsstruktur. Bevölkerungsanteil und Bevölkerungssicherheit sind wichtige Grundlagen für langfristigen Frieden und Stabilität. Der Anteil der Han-Bevölkerung im Süden ist mit weniger als 15 Prozent zu gering. Das demografische Ungleichgewicht ist das Kernproblem.“
Dabei ist es keine neue Entwicklung, dass Peking die Situation in der Provinz und die seiner Bevölkerung gestalten will. Seit Gründung der Volksrepublik 1949 betreibt Peking in Xinjiang eine aktive Siedlungspolitik, bei der jahrzehntelang Han-chinesische Siedler mit Anreizen in die Region gelockt wurden. 1949 waren 6,7 Prozent der Bevölkerung Han-chinesisch. Bis 1978 war dieser Teil auf 41 Prozent angewachsen. Dieses Wachstum aber stagnierte in den kommenden Jahren.
Allerdings wurde den Planern in Peking relativ schnell klar, dass die permanente Ansiedlung von Han-Chinesen langfristig nicht das erwünschte Ergebnis erzielen würde. Xinjiang galt und gilt trotz zahlreicher Werbekampagnen als kein erstrebenswerter Wohnort. So beschloss man, Millionen uigurischer Geburten zu verhindern. Das ist der Hintergrund der massenhaften Zwangssterilisierungen, die ab 2015 einsetzten. Allein 2019 sollen 34 Prozent aller uigurischen Frauen auf dem Land sterilisiert worden sein. Zeitgleich wurden Ehen zwischen Han-Männern und uigurischen Frauen propagiert. Diese Art der „Bevölkerungsoptimierung“ ist aus chinesischer Sicht ein Erfolg: Die Geburtenraten der Uiguren fallen seit 2017.
Für die kommunistische Partei sind extremistische Gedanken ein „Virus“
Was sich hinter dem euphemistischen Begriff „Bevölkerungsoptimierung“ verbirgt, hat in China eine lange Tradition. 1979 führte Deng Xiaoping die Ein-Kind-Politik ein, die ab 1980 auch immer strenger gehandhabt wurde. Noch bis vor wenigen Jahren kam es in ländlichen Gebieten zu Zwangssterilisierungen und Abtreibungen, weil ein Paar ein zweites oder drittes Kind bekam.
Die übrigen Uiguren müssten „deradikalisiert und von extremistischen Gedanken gereinigt werden“. Dafür schuf das Regime ab 2014 ein gewaltiges System von „Umerziehungs“- oder „Ausbildungslagern“, das Millionen von Uiguren durchlaufen müssen. In der Meinung der kommunistischen Partei Chinas sind extremistische Gedanken ein „Virus“. Wer seine Verbreitung nicht eindämmt, riskiert, dass es immer weiter um sich greift und den gesamten Volkskörper vergiftet.
Die in Xinjiang massenhaft getestete Überwachungstechnologie findet nun auch im Rest des Landes Anwendung: Kameras mit Gesichtserkennungssoftware melden Verkehrssünder. Das sogenannte Social-Credit-System vergibt Punkte für gutes Verhalten. Der „Health-Code“ soll sicherstellen, dass man keinen Kontakt zu Infizierten hatte. (Noch bezieht sich Infektion auf das Coronavirus.) Alles zum Wohle des Kollektivs, versteht sich.
Seien wir wachsam
Die individuelle Freiheit ist kein Wert an sich, auf den die Politik reagiert und der mäßigend auf Machbarkeitsfantasien einwirkt. Der Blick auf die eigene Bevölkerung entspricht nicht dem eines gewählten Repräsentanten zu mündigen, gleichgestellten Bürgern. Er ähnelt eher dem eines Viehzüchters auf die eigene Herde: Deren Zusammensetzung soll verändert, optimiert und gesteuert werden.
Basales Element der Volksrepublik war nie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, geschweige denn Entscheidungshoheit über den eigenen Körper. Im Vordergrund steht immer das Kollektiv – gelenkt und geleitet von einer kleinen Klasse von Kadern. Diese Denke ermöglichte erst den Albtraum, den derzeit Millionen von Uiguren erleiden müssen.
Wir sind in der EU zum Glück meilenweit von diesen Zuständen entfernt. Doch durch die zahlreichen Grundrechtseinschränkungen während der Pandemie haben wir uns einige Meter in diese Richtung bewegt. Eine Impfpflicht wäre ein trauriger Höhepunkt. Wer die persönliche Entscheidung über den eigenen Körper dem Wohl des Kollektivs opfert, öffnet die Tore zur Hölle. Seien wir deswegen besonders wachsam, bei jedem Schritt, der unsere Freiheit einschränkt.
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Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.