Bei der neuen Corona-Variante Omikron ist derzeit noch vieles unbekannt. Andere Länder zeigen aber, wie schnell sich das Virus wieder ausbreiten kann. Deswegen darf es auch für Geboosterte nach Ansicht von Virologe Stürmer nicht zu viele Lockerungen geben. Und auch wenn eine Impfung schützt, ist es für eine Impfpflicht möglicherweise noch zu früh.
ntv: Aktuell sinken die Inzidenzen täglich. Sind wir auf einem guten Weg?
Martin Stürmer: Es zeigt, dass die Maßnahmen, die letztendlich umgesetzt worden sind und von den Menschen relativ konsequent eingehalten werden, tatsächlich eine gewisse Wirkung haben. Aber wir haben etwas Ähnliches schon einmal erlebt mit der Alpha-Variante, als die Zahlen deutlich gesunken sind. Man wurde zu leichtsinnig, Alpha hat sich durchgesetzt und uns in die nächste Welle geführt. Das macht mir bei Omikron ähnliche Sorgen. Ich befürchte auch, dass sich möglicherweise ein gewisser Schlendrian einschleichen wird. Länder wie England zeigen, wie schnell es gehen kann.
Wann rechnen Sie denn auch in Deutschland mit wieder steigenden Zahlen?
Es ist schwer vorherzusagen, wie sich Omikron in Deutschland verhält. Wir haben aktuell wenige Fälle und keine flächendeckende Ausbreitung. Aber das kann sich innerhalb weniger Wochen ändern, so dass wir im Januar über ganz andere Zahlen reden müssen.
Wir haben einen Teillockdown für Ungeimpfte, auf der anderen Seite aber Öffnungen für Menschen, die geboostert sind. Macht das Sinn?
Das würde für die Delta-Variante noch Sinn ergeben, da wir wissen, dass durch den Booster ein guter Schutz besteht vor Infektion und Übertragung. Aber bei Omikron ist das ganz anders. Wir haben zwar nach dem Booster das beste Mittel gegen eine Infektion mit Omikron, jedoch ist es bei weitem nicht so effektiv wie bei Delta. Deshalb halte ich das für den jetzigen Zeitpunkt nicht für klug, wenn wir uns da den „Luxus“ zu viele Lockerungen für Geboosterte leisten. Denn gegen Omikron besteht kein so guter Schutz.
Sie schließen sich da der Virologin Sandra Ciesek an, die sagt, wir dürfen nicht zu viel lockern und müssen weiter vorsichtig sein.
Ja, definitiv. Sie hat die Daten sehr schön rausgearbeitet. Wir haben nach dem Booster gegen Delta eine recht gute Anzahl an Antikörpern, die das Virus auch neutralisieren, sprich Übertragungen verhindern können. Aber Schutz ist deutlich reduziert gegenüber Omikron und lässt mit der Zeit nach. Insofern ist die Boosterung jetzt eine Hilfe, mit der wir uns absichern können, bis im März der angepasste Impfstoff da ist. Aber wir sollten nicht zu viele Lockerungen erlauben. Es ist genau richtig, was sie sagt, weil wir dann Gefahr laufen, eine Omikron-Welle loszutreten.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach sagt, dass wir in Deutschland nicht genug Impfstoff haben. Der Kinder- und Jugendärzteverband sagt, Impfstoffmangel ist ein Skandal. Stimmen Sie zu?
Ja, wenn es denn so ist. Wenn wir da nochmal richtig Gas geben wollen und nicht genug Impfstoff haben, ist das auf jeden Fall kein gutes Signal. Dann hat jemand tatsächlich den Trend auch verschlafen. Impfstoffe sind auch haltbar, deswegen muss man die jetzt nicht so knapp ordern. Insofern hätte man schon recht großzügig in die Lagerhaltung greifen können. Es ist jetzt eher eine politische Aktion – sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Als Signal an die Bevölkerung ist es schon recht unangenehm, wenn man das Boostern propagiert und im gleichen Atemzug sagt, wir haben nicht genug Impfstoff.
Wie schlimm wäre das denn, wenn wir im Januar zu wenig Impfstoff hätten?
Das wäre ganz, ganz schlecht. Denn ich rechne damit, dass wir uns spätestens im Januar flächendeckend mit Omikron konfrontiert sehen. Dann brauchen wir die Boosterung. Sie ist aktuell das Beste, was wir gegen Omikron haben. Wir müssen auch die Kinder und Jugendlichen mit Impfstoff versorgen. Das ist eine Altersgruppe, in der Inzidenz sehr hoch ist, und ich möchte die Möglichkeit sehen, da ausreichend impfen zu können.
War es ein Fehler, das Boostern für alle zu öffnen?
Nein. Die Daten haben gezeigt, wie wichtig die Booster-Impfung auch gegen nachlassenden Immunschutz bei der Delta-Variante ist. Aber es muss dann eben entsprechend Impfstoff vorgelegt werden. Und da hat man offensichtlich die Hausaufgaben nicht gemacht. Deswegen liegt der „Fehler“ eher bei der Beschaffung und nicht bei der Empfehlung für die Boosterung.
Und ohne Impfstoff wird ja auch die Impfpflicht immer unwahrscheinlicher?
Ja, das ist ohnehin ein schwieriges Thema. Wir reden über einen Impfstoff, der noch gar nicht ausgereift ist und noch gar nicht am Ende dessen ist, was die Impfung möglicherweise leisten kann. Wir haben die erste Generation an Impfstoffen. Wir haben das erste Impfschema jetzt ausprobiert mit der Grundimpfung, zweimal hintereinander, mit einem Booster fünf, sechs Monate danach. Ob das wirklich so bleiben wird, ist eh noch die Frage. Insofern stellt sich zu Recht die Frage, ob die Impfpflicht überhaupt korrekt und richtig ist. Wir wissen noch gar nicht, wo wir genau hingehen.
Mit Martin Stürmer sprach Vivian Bahlmann
Quelle: ntv.de