Die Situation an der östlichen EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus wird immer verheerender. Tausende Migranten wollen hinüber – mit einem ganz bestimmten Ziel.
Warschau/Minsk – Mit Kabelschneidern und Schaufeln stürmen sie Stacheldrahtzäune und versuchen, die an der Grenze versammelten Soldaten zu überwinden. Seit Montag (8. November) rücken Migranten in Richtung EU*-Außengrenze zwischen Polen und Belarus vor – wobei es zu Zusammenstößen mit polnischen Sicherheitskräften kommt. Diese wurden aufgrund der kritischen Lage mit zusätzlichen Truppen verstärkt. An der Grenze machen Geflüchtete offenbar kein Geheimnis daraus, welches Ziel sie im Auge haben – wie ein Video des belarussischen Journalisten Tadeusz Giczan zu belegen scheint.
Die Aufnahmen aus dem Grenzgebiet zeigen, wie polnische Sicherheitskräfte scheinbar eine Gruppe von Migranten davon abhalten, die Grenze zu überwinden, nachdem ein Teil des Stacheldrahtzauns runtergerissen wurde. „Germany, Germany“, rufen diese laut. Ein Helikopter schwebt im Tiefflug über den Köpfen der Geflüchteten.
A section of the barbed wire fence has been removed. Polish servicemen formed a human shield to cover the hole and are trying to scare migrants off with a helicopter. The crowd is chanting “Germany!” pic.twitter.com/P99Yd9SRdO
— Tadeusz Giczan (@TadeuszGiczan) November 8, 2021
Warschau wirft Minsk derweil vor, die Migranten zu kontrollieren und an die Grenze zu treiben. Durch eine „künstliche Migrationsroute“ wolle der belarussische Machthaber Lukaschenko die europäischen Nachbarländer Polen, Lettland und Litauen destabilisieren, hieß es in einer Regierungserklärung.
Polen: Eskalation an EU-Außengrenze – Migranten machen finales Ziel Deutschland offenbar deutlich
Tatsächlich scheinen auf Videos in sozialen Netzwerken belarussische Soldaten hinter den Migranten zu stehen und sie dem Anschein nach in Richtung Grenze zu treiben. Diese Aufnahmen verbreitet unter anderem der Telegram-Kanal Nexta, die wichtigste Informationsquelle der belarussischen Opposition. Auf Twitter gab der polnische Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak an, die Grenze verteidigen zu wollen. Der Sprecher des polnischen Geheimdienstkoordinators, Stanisław Żaryn, bezeichnete die Ereignisse als „hybride Angriffe“. Bei den Geflüchteten soll es sich überwiegend um irakische Kurden handeln, wie die Deutsche Welle berichtete.
All activities of the migrants are carried out under the supervision and control of #Belarusian soldiers pic.twitter.com/hxkzv6Bg51
— NEXTA (@nexta_tv) November 8, 2021
Bundesinnenminister Horst Seehofer bat die EU um Unterstützung. „Das können Polen oder Deutschland nicht allein bewältigen“, sagte Seehofer der Bild. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko versuche, die Schicksale der Menschen zu benutzen, „um den Westen zu destabilisieren“, führte Seehofer an und fügte hinzu, EU-Staaten müssten nun Zusammenhalt zeigen.
Eine ähnliche Aussage kam vom polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki. Er sieht die EU durch den Andrang Tausender Migranten an der polnischen Grenze zu Belarus in Gefahr. „Heute steht die Stabilität und Sicherheit der gesamten EU auf dem Spiel“, erklärte Morawiecki auf Twitter.
Polnisch-belarussische Grenze: Litauen ergreift Maßnahmen – Ausnahmezustand in Grenzregion
Auch Litauen ergreift nun Maßnahmen und will angesichts der zugespitzten Lage an der EU-Außengrenze zu Belarus für einen Monat den Ausnahmezustand in der Grenzregion verhängen. Die Regierung des baltischen EU-Landes legte dem Parlament in Vilnius am Dienstag den entsprechenden Beschluss zur Billigung vor. Das Kabinett folgt damit einem Vorschlag von Innenministerin Agne Bilotaite. Sie sagte zuvor, ihr Land könne mit „ähnlichen Invasionen und Angriffen“ rechnen.
Der Ausnahmezustand soll demnach ab Mitternacht entlang der Grenze zu Belarus und fünf Kilometer landeinwärts gelten sowie in den Migrantenunterkünften in Kybartai, Medininkai, Pabrade, Rukla und Vilnius. Dort kam es am Montag zu Unruhen – in einem Lager wurde Tränengas eingesetzt. (bb mit Material von dpa) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA