Eine Impfpflicht, ob per Gesetz oder indirekt durch Druck, wäre verfassungswidrig, solange es andere Mittel gibt. Der Staat muss überzeugen und Impfen attraktiv machen.
Volker Boehme-Neßler lehrt öffentliches Recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Die Impfung gegen Corona läuft. Die Quote derjenigen, die bereits geimpft sind, steigt. Durch Impfungen lässt sich – so der hoffnungsvolle Wissensstand von heute – eine Herdenimmunität erreichen. Dann hätte man das Virus unter Kontrolle, ohne Freiheiten einschränken zu müssen. Allerdings müssten sich dazu nach heutigem Wissensstand mehr als 85 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger impfen lassen.
Was ist allerdings, wenn die notwendige Impfquote mit freiwilligen Impfungen nicht erreicht werden kann? Brauchen wir dann eine gesetzliche Impfpflicht? In der deutschen Politik beginnt die Diskussion darüber gerade. In anderen Staaten gibt es die Impfpflicht schon. Politisches Handeln ist nicht völlig frei. Es wird immer durch die Verfassung begrenzt. Was sind also die verfassungsrechtlichen Determinanten einer Corona-Impfpflicht?
Impfpflicht als Machtausübung
Eine gesetzliche Pflicht zur Corona-Impfung, die im Notfall mit staatlichem Zwang durchgesetzt würde, wäre ein harter Eingriff in Grundrechte. Mein Körper gehört mir, sagen die Menschen zu Recht. Eine Impfung ist kein kleiner harmloser Pieks. Mit ihr wird unwiderruflich in den Körper eingegriffen; das Immunsystem wird tiefgreifend beeinflusst. Was genau dabei passiert, ist noch nicht vollständig verstanden. Bei den Corona-Impfstoffen kennt noch niemand die Langzeitfolgen. Wenn der Staat eine Impfung mit Zwang durchsetzt, übt er – nicht nur symbolisch, sondern ganz konkret – Macht über den Körper und die Gesundheit seiner Bürgerinnen und Bürger aus. Verfassungsrechtlich gesprochen: Er greift in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ein. Und andere Grundrechte können auch betroffen sein.
Die Corona-Monate haben es in aller Härte gezeigt: Es gibt keine Freiheit ohne Grenzen. Auch die Verfassung lässt Einschränkungen von Grundrechten zu – aber nur im Notfall und unter strengen Voraussetzungen. Die entscheidende Frage ist die nach der Verhältnismäßigkeit. Wäre eine Zwangsimpfung also verhältnismäßig? Das hängt davon ab, ob es Alternativen gibt, die genauso effektiv sind und die Freiheiten weniger einschränken. Dann wäre eine Impfpflicht verfassungswidrig.
Alternativen zur Impfpflicht
Auch wenn es manchmal in Vergessenheit gerät: Menschen lassen sich durch Informationen, Fakten und Argumente überzeugen. Das ist jedenfalls das Credo der modernen aufgeklärten Welt, die von der Macht der Vernunft ausgeht. Der Staat muss deshalb informieren und überzeugen. Dröge Regierungserklärungen, langweilige Plakate und biedere Broschüren reichen nicht aus. Die Kommunikation muss auch über alle Social Media stattfinden. Hier werden viele Bürgerinnen und Bürger erreicht. Und hier verbreiten Impfgegner viele Gerüchte, die Ängste schüren und die Impfskepsis wachsen lassen.
Natürlich hat die reine Aufklärung Grenzen. Deshalb braucht es zusätzlich handfeste Anreize. Inzwischen zeigen kreative Beispiele aus anderen Staaten, was denkbar wäre, um die Impfbereitschaft zu erhöhen. Lotterien, finanzielle Prämien und Gutscheine sollen die Bürgerinnen und Bürger zum Impfen bewegen. Auch das sprichwörtliche Freibier wird als Anreiz eingesetzt. Damit ist die Grenze der Fantasie aber noch lange nicht erreicht.
Menschen treffen auch und gerade die heikle Impfentscheidung nicht rein rational. Es sind Gefühle, die ihr Verhalten stark bestimmen. Die Politik beginnt, die Bürgerinnen und Bürger mit emotionalen Appellen anzusprechen. US-Präsident Joe Biden hat die Impfung als patriotischen Akt bezeichnet. Man wird in Deutschland nicht mit Patriotismus argumentieren (können). Aber an das Gemeinschaftsgefühl appellieren – das ist sicher ein vielversprechender Weg.
Ein sehr heikles und problematisches Instrument sind allerdings Appelle an die Moral. Die EU-Kommissarin Margrethe Vestager sagt: Wer sich nicht impfen lässt, handelt unverantwortlich und unsozial. Sie qualifiziert die berechtigten Impfängste von Bürgerinnen und Bürgern moralisch ab. Das ist ganz schlechter Stil. Es ist auch kontraproduktiv, denn es wird eher Trotzreaktionen hervorrufen. Noch schlimmer ist das Spiel mit der Angst. Der Staat des Grundgesetzes muss seine Bürgerinnen und Bürger über Gefahren aufklären. Er darf sie aber nicht verängstigen und einschüchtern. Er darf ihnen auch nicht drohen – etwa mit schlimmen Folgen oder unangenehmen politischen Maßnahmen, wenn sie das gewünschte Verhalten nicht an den Tag legen. Das widerspricht dem Menschenbild der Verfassung.
Kommunikation ist wichtig. Praktisches Handeln aber auch. Wer will, dass sich mehr Menschen impfen lassen, muss das Impfen in der Praxis einfacher machen. Diese simple Erkenntnis beginnt sich langsam in der Politik durchzusetzen. Mobile Impfteams müssen dahin gehen, wo die Menschen sind, die geimpft werden sollen – in Supermärkte und Drogerien, in soziale Brennpunkte und auf Partymeilen. Die Möglichkeiten sind noch nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft.
Verfassungswidrigkeit einer Impfpflicht
Klares verfassungsrechtliches Fazit: Es gibt noch viele Maßnahmen, die Impfquote zu erhöhen. Deshalb ist eine Impfpflicht nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Das gilt auch für eine Impfpflicht, die sukzessive „durch die Hintertür“ eingeführt wird. Die Politik diskutiert gerade die Idee einer indirekten Impfpflicht – ohne sie so zu nennen. Die Idee ist simpel: Wer geimpft ist, hat Vorteile, wer nicht geimpft ist, muss im Alltag und im Berufsleben Nachteile hinnehmen. Das erhöht den Druck auf die bisher nicht geimpften Menschen. Das ist faktisch eine indirekte Impfpflicht und ebenso verfassungswidrig wie eine direkte Impfpflicht, die ausdrücklich im Gesetz steht.
Die Verfassung lässt eine – direkte oder indirekte – Impfpflicht nur dann zu, wenn die Pandemiesituation sich katastrophal verschlechtert und eine Impfpflicht das einzige und letzte Mittel ist, strikte Lockdowns mit schweren ökonomischen, sozialen und politischen Schäden zu vermeiden. So ist die Situation in Deutschland nicht.
In der liberalen Demokratie des Grundgesetzes sind die Mittel, mit denen Regierungen ihre Bürgerinnen und Bürger bewegen, nicht Zwang und mehr oder weniger versteckte Drohungen. Es sind Informationen, Argumente, Appelle und Diskussionen. Das Gebot der Stunde heißt deshalb: Reden. Ernsthaft reden, immer wieder, ohne nichtssagende Floskeln und ohne Drohungen mit einer Impfpflicht oder erneuten Lockdowns.