Bürokratie und Abzocke im Ahrtal

Erst fünf Prozent der Fluthilfe-Milliarden wurden ausgezahlt

15.07.2023
Lesedauer: 5 Minuten
Am Tunnel Altenahr riss die Flut die ganze Straße weg. Die wichtige Verbindung war eines der ersten Wiederaufbau-Projekte Foto: picture alliance/dpa

Ahrweiler (Rheinland-Pfalz) – Zwei Jahre nach der Todes-Flut leben sie noch immer auf einer Baustelle. Und sie bangen um ihre Existenz!

Rosemarie Degen (86) und ihr Sohn Gregor (64) hatten das Café und die Backstube in Ahrweiler vor der Hochwasser-Katastrophe am 14. Juli 2021 gerade frisch renoviert. Die Seniorchefin kämpft mit den Tränen, sagt: „Meine Großeltern haben die Bäckerei 1900 gegründet. Ich habe schon als kleines Mädchen im Betrieb mitgeholfen, damals kosteten sieben Brötchen noch 20 Pfennig. Da gibt man nicht einfach auf.“

„Ohne freiwillige Helfer wären wir verloren gewesen“

2,86 Meter hoch stand hier das Wasser, während in den Straßen näher an der Ahr Menschen starben. Im gesamten Tal gab es 135 Tote, allein in der Kreisstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler 75.

Auch Familie Degen war traumatisiert, wollte trotzdem schnell anpacken, doch sie scheiterten an Bürokratie und Handwerker- Abzocke!

Rosemarie Degen: „ Ohne die freiwilligen Helfer wären wir verloren gewesen. Tagelang haben sie zu neunt den Schlamm rausgeschleppt. Dann passierte lange nichts.“

So sah es vor einem Jahr noch vor der Bäckerei von Rosemarie und Gregor Degen aus
So sah es vor einem Jahr vor der Bäckerei von Rosemarie und Gregor Degen aus
Foto: Laszlo Pinter

Ein Gutachter der Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB) schätzte den Schaden auf 900 000 Euro. „Doch ich kann keine Handwerker beauftragen, wenn das Geld noch nicht da ist. Hier steckt schon all unser Erspartes drin, wir können nicht ständig nur in Vorleistung gehen. Hinzu kommt, dass die Preise in der Zwischenzeit explodiert sind.“

Kämpft mit der Bürokratie – und mit den Tränen: Rosemarie Degen und Sohn Gregor
Seniorchefin Rosemarie Degen will die Bäckerei in Ahrweiler wieder aufbauen. Im Haus wohnt auch Zeliha Atac, die hier nach der Katastrophe Essen und Trinken an Flut-Opfer verteilte
Foto: Reinhard Roskaritz

Die ISB bewilligte 80 Prozent der Schadenssumme, 20 Prozent davon wurden ausgezahlt. Für den Rest müssen die Rechnungen einzeln eingereicht werden. Fatal: „Die ersten Handwerker ließen uns nach kurzer Zeit im Stich. Der Elektriker tauchte nach der ersten Zahlung nicht mehr auf. Der Verputzer putzte sogar die Steckdosen zu. Die Firma existiert schon nicht mehr.“

Handwerker zockten die Flut-Opfer ab

Architekt Carl Birkle bestätigt: „Direkt nach der Flut gab es eine beeindruckende Hilfsbereitschaft. Dann kam die Goldgräber-Phase, wo angebliche Fachfirmen, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten, schlechte Arbeit zu überhöhten Preisen anboten.“

Jetzt sei die Phase, wo noch mehr Bürokratie und Handwerker-Mangel alles verzögert. „Deshalb geht’s hier nur stückchenweise vorwärts.“

Rosemarie Degen sagt auch mit Blick auf Nachbarn und Freunde: „Wir haben bald alle keine Kraft mehr.“

Dieses Flut-Foto machte eine Hausbewohnerin in unmittelbarer Nähe des Hauses
Dieses Flut-Foto machte eine Hausbewohnerin in der Nähe der Bäckerei
Foto: Privat

Erst fünf Prozent der Hilfe wurden ausgezahlt

Ministerpräsidentin Malu Dreyer (62, SPD) hatte „schnelle und passgenaue Hilfen“ versprochen. Fakt ist: Von den 15 Milliarden Wiederaufbau-Hilfe des Bundes sind laut Staatskanzlei 1,6 Milliarden Euro bewilligt (Stand Juni 2023) – das sind gut zehn Prozent. Aber nur die Hälfte davon, also rund fünf Prozent, soll bereits ausgezahlt worden sein.

Ministerpräsidentin Malu Dreyer hatte eigentlich „schnelle und passgenauen Hilfen“ versprochen
Ministerpräsidentin Malu Dreyer hatte eigentlich „schnelle und passgenauen Hilfen“ versprochen
Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Die landeseigene Investitions- und Strukturbank (ISB) hat davon für Hausrat, Gebäude und Unternehmen 1,043 Milliarden Euro gebilligt (Stand 10.7.2023).

► Im Ahrtal wurden 28 Brücken zerstört. Laut „Landes-Betrieb Mobilität“ (LBM) sind inzwischen sechs wiederhergestellt, zwölf in Planung, der Rest noch nicht bearbeitet. Die Flut hat auch mehr als 70 Kilometer Straßen zerstört. Dazu heißt es: „Grundsätzlich sind alle Maßnahmen provisorisch unter Verkehr.“ Fertig ist z. B. die wichtige Verbindung der B 267 durch den Tunnel Altenahr.

►„Aktion Deutschland Hilft“ hat insgesamt 283 Millionen Euro Flut-Spenden erhalten. Nach Abzug der Aktions- und Betriebskosten stehen laut einem Sprecher allerdings nur 261 Millionen Euro zur Verfügung. Davon wurden bis jetzt 70 Prozent (184 Millionen Euro) für Hilfsprojekte überwiesen.

Allein im Winzer-Dorf Dernau waren 550 Häuser stark beschädigt, rund 180 sind es immer noch. Bürgermeister Alfred Sebastian zu BILD: „Von den Häusern mit zwei Vollgeschossen ist nur jedes fünfte bewohnbar.“

Rekordpegel der Ahr - Infografik

► Auch die Kommunen stöhnen über die lähmende Bürokratie beim Wiederaufbau! Beim Kreis Ahrweiler heißt es: „Ein ‚Sonderrecht‘ für das flutbetroffene Gebiet besteht bislang noch nicht.“ Sprich: Es gibt keine beschleunigten Genehmigungs-Verfahren! Das sei mit erheblichem Personal-, Zeit- und Kostenaufwand verbunden.

Die Flut darf nicht das Ende sein

Rosemarie Degen hat einen großen Lichtblick: „Meine drei Urenkel sind fünf Jahre, drei Jahre und neun Monate alt. Das hält mich auf Trab.“ Und eine große Hoffnung: „Wir wollen noch in diesem Jahr wieder eröffnen und in zwei Jahren 125-jähriges Jubiläum feiern.“ Die Flut darf nicht das Ende gewesen sein.

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