Erich Vad war Merkels wichtigster Militärberater. Er kritisiert die deutsche Ukraine-Politik. Ein Chaos wie beim Abzug aus Afghanistan droht, sagt er im Interview.
Der frühere Brigadegeneral und Merkel-Berater Erich Vad stand in Deutschland stark in der medialen Kritik, weil er sich für Friedensverhandlungen mit der Ukraine und Russland einsetzte. Ein Jahr lang hat er deutschen Medien kein Interview mehr gegeben. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung spricht er nun über die kurzsichtige Strategie der Bundesregierung, über die „Fata Morgana“ ukrainischer Militäroffensiven und die Kriegsziele Russlands.
Herr Vad, das Bundesverteidigungsministerium spielt Pläne durch, wie ein Angriff Russlands auf die Nato abgewehrt werden kann. Für wie realistisch halten Sie so ein Szenario?
Militärische Abschreckung ist wichtiger Teil unserer Verteidigungsstrategie. Zu ihr gehören aber auch Dialogbereitschaft, Entspannungspolitik und vertrauensbildende Maßnahmen. Diese sogenannte Harmel-Doktrin wurde seit den 60er-Jahren vom westlichen Verteidigungsbündnis praktiziert. Im Umgang mit der Ukraine und mit Russland vermisse ich letztere. Ich halte unter den jetzigen Bedingungen und bei der jetzigen Lage einen Angriff Russlands auf die Nato für eher unwahrscheinlich. Die eingesetzten russischen Streitkräfte sind zu schwach, um die gesamte Ukraine besetzen zu können, und erst recht, um einen Krieg mit der Nato zu riskieren.
ZUM INTERVIEWPARTNER
Dr. Erich Vad ist Unternehmensberater, Sicherheits- und Militärexperte, Publizist und Buchautor. Der Brigadegeneral a.D. war von 2006 bis 2013 Gruppenleiter im Bundeskanzleramt, Sekretär des Bundessicherheitsrates und Militärpolitischer Berater der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Wenn es Russland nicht um eine Ausweitung der Kampfzone nach Westen geht, welche strategischen Ziele verfolgt die Regierung von Präsident Putin dann?
Moskau hat im Ukraine-Krieg das Ziel, einen Nato-Beitritt der Ukraine und die Stationierung westlicher Truppen in der Ukraine zu verhindern. Strategisch und geopolitisch gesehen geht es Russland darum, über eine Sicherheitszone zur Nato zu verfügen. Russland weiß aus der historischen Erfahrung seit dem Feldzug Napoleons 1812 und zweier großer Kriege im 20. Jahrhundert, dass es von der nordeuropäischen Tiefebene aus am ehesten angegriffen werden könnte und dort entsprechend verletzlich ist. Auch andere Staaten beanspruchen Sicherheitszonen für sich, so wie die Türkei im Nordirak und in Syrien gegenüber den Kurden, Israel gegenüber der Hamas im Gazastreifen. So etwas ist nicht immer völkerrechtskonform; Militärs müssen das aber unabhängig von der jeweiligen Rechtslage, aus der strategischen Lage, die sich für beide Seiten daraus ergibt, interpretieren und verstehen. Erst so kann adäquat gehandelt werden.
Wie schätzen Sie die kurzfristigen Kriegsziele Russlands in der Ukraine ein?
Die Russen wollen die Kontrolle der Zugänge zum Schwarzen Meer im Griff behalten. Dazu gehört die Krim, auf der die Schwarzmeerflotte stationiert war. Übrigens war dies auch vertraglich geregelt, als die Ukraine noch die staatliche Kontrolle über die Krim hatte. Aus russischer Perspektive ist dies nicht verhandelbar. Der Oblast Kaliningrad, die Region Murmansk und die Schwarzmeerregion mit der Krim bilden die strategischen Eckpfeiler der westlichen Verteidigung Russlands. Diese Regionen zu kontrollieren, ist existenziell für Russland, solange es Weltmacht sein will. Darüber hinaus geht es Russland um die Kontrolle seiner strategischen Peripherie. Darauf hat der frühere Sicherheitsberater im Weißen Haus unter Präsident Carter, Zbigniew Brzezinski, früh hingewiesen. Wer heute fordert, man müsse Russland besiegen und bis zur Handlungsunfähigkeit schwächen, übersieht zudem, dass ein Zusammenbruch der Russischen Föderation ein riesiges strategisches Vakuum hinterließe: Der Osten Eurasiens würde weitestgehend destabilisiert. Im Interesse des Westens wäre dies nicht. Darauf hat zuletzt noch Henry Kissinger kurz vor seinem Tode hingewiesen.
Der Westen soll ein Interesse an einem starken Russland haben? Das ist eine gewagte These.
Wenn man sagt, man müsse Russland besiegen, muss man sich im Klaren darüber sein, was das für Konsequenzen hätte. Ein direktes militärisches Aufeinandertreffen von Großmächten muss unbedingt verhindert werden. Russland ist die stärkste Nuklearmacht der Welt, das muss in jede strategische Überlegung einbezogen werden. Großmächte lassen sich nicht in ihr machtpolitisches Einflussgebiet hineinreden. Die Kubakrise von 1962 hat das mit Blick auf die USA gezeigt: Kennedy konnte damals nicht zulassen, dass die Sowjets militärisch auf Kuba Fuß fassten. Er war bereit, deshalb sogar bis in einen Nuklearkrieg zu ziehen.
Wenn ein Angriff Russlands auf die Nato unwahrscheinlich ist, warum spielt das Verteidigungsministerium dann solche Pläne durch?
Zunächst ist das der Job eines jeden Verteidigungsministers und schlichtes militärisches Handwerk. Dem Bundesverteidigungsministerium geht es darum, dem Verfassungsauftrag an die Bundeswehr zu entsprechen und die Verteidigungsfähigkeit endlich wiederherzustellen. Dazu braucht es Geld – neben dem fehlenden Personal und Material. Dafür wird Russland zur permanenten Bedrohungslage erklärt. Ich halte das für den falschen Weg. Selbst in der Hochzeit des Kalten Krieges hatten wir kein Feindbild und haben es auch nicht gebraucht. Die Abwesenheit eines Feindbildes ist für sich bereits ein starkes Mittel einer Verteidigungsstrategie. Es kann potenziellen Gegnern irrationale Ängste nehmen oder diese mildern.
Deutschland ist mittlerweile zum wichtigsten Unterstützer der Ukraine in der EU aufgestiegen. Bundeskanzler Olaf Scholz fordert von den anderen Mitgliedstaaten mehr Handlungswillen ein. Sollte Deutschland weiter Waffen und Geld an die Ukraine liefern?
Die Waffenlieferungen sollen der Ukraine helfen, sich gegen die russische Aggression zu wehren. Vom Grundsatz her ist das richtig und völkerrechtsgemäß. Man muss sich dabei aber immer fragen, was mit diesen Waffenlieferungen erreicht werden soll. Etwa vor einem Jahr erklärte die Bundesregierung: „Wir liefern Panzer, um die Kriegswende herbeizuführen.“ Das war damals schon kurzsichtig: Waffen zu liefern, ohne zugleich realistische politische Ziele zu definieren. Bis vor kurzem lautete eine Parole sogar, die Ukraine solle die Krim und den Donbass zurückerobern. Das gab und gibt die Lage überhaupt nicht her. Es ist sinnlos, Krieg zu führen, ohne zuvor realistische politische Ziele zu setzen. Das wusste übrigens schon Clausewitz.
Von westlicher Seite heißt es, wenn die Ukraine nicht mehr Waffen erhält, ist sie Russland ausgeliefert. Wollen Sie die Ukraine im Stich lassen?
Der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj hat vor wenigen Wochen gesagt, die Ukraine und Russland befänden sich in einer operativen Pattsituation. Das ist aus meiner Sicht eine zu optimistische Einschätzung, weil Russland die militärische Initiative und Eskalationsdominanz auf seiner Seite hat. Es sieht so aus: Russland hat das militärische Heft des Handelns in der Hand. Moskau konsolidiert und arrondiert zurzeit die besetzten Gebiete, und es ist nicht ausgeschlossen, dass es im Raum Charkiw und Odessa offensiv weitergehen wird.
Russland scheint das Kriegsgeschehen in der Ukraine zu dominieren. Dennoch nimmt die Bereitschaft im Westen ab, Kiew mit Geld und Waffen auszustatten. Ist die Nato kriegsmüde?
Die Nato will nicht Kriegspartei werden. Die finanziellen und materiellen Zuwendungen aus den USA versiegen. Insofern frage ich mich seit langem: Wohin sollen Waffenlieferungen führen, wenn sie nicht die Kriegswende zugunsten der Ukraine bringen? Weshalb werden sie nicht um diplomatische Maßnahmen ergänzt? Es gab viele Friedens- und Verhandlungsinitiativen in den letzten Monaten, von Deutschland und aus der EU ist nichts gekommen. Nach wie vor fehlen mir ein realistisches strategisches Konzept für den militärischen Abschluss der Kampfhandlungen und vor allem ein politisches Konzept, wie man aus diesem Konflikt, in dem es keine militärische Lösung gibt, herauskommt.
Sie sagen, von Regierungen aus europäischen Staaten nehmen Sie keine Friedensinitiativen wahr. Wird der Ukraine-Krieg letztlich in Washington entschieden?
Es sieht so aus, dass die Russen darauf setzen, dass die nächste US-Regierung andere Prioritäten haben wird. Sowohl bei einer Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus als auch bei einer zweiten Amtszeit von Joe Biden dürfte sich das Hauptaugenmerk der USA mehr in Richtung Naher Osten und Indopazifik verschieben, um Chinas Macht- und Einflusspolitik im Südchinesischen Meer und in Taiwan einzugrenzen. Dann werden die USA – so die nicht unberechtigte russische Hoffnung – eher zu einem Ausgleich mit Russland bereit sein. Im Endeffekt wird also über das Schicksal der Ukraine in Washington und Moskau entschieden werden. Wir Europäer müssen aufpassen, dass wir nicht in einem Jahr so überrascht und blank dastehen wie beim überhasteten Abzug aus Afghanistan 2021. Es ist nämlich nicht unwahrscheinlich, dass im Laufe des Jahres der Konflikt in der Ukraine einfriert. Solche „Frozen Conflicts“ gibt es in vielen Regionen, etwa in Korea oder auf den Golanhöhen. Ich habe die Befürchtung, dass wir in eine ähnliche Lage hineinstolpern, weil wir Europäer nur darauf warten, was die Amerikaner machen, statt selber Initiative zu ergreifen.
Auch Sahra Wagenknecht fordert Friedensverhandlungen für die Ukraine. Sie hatten gemeinsam mit ihr im Februar 2023 zu einer großen Friedensdemonstration in Berlin aufgerufen. Werden Sie sich dem Bündnis Sahra Wagenknecht anschließen?
Es ist wichtig, dass politische Persönlichkeiten wie Sahra Wagenknecht und andere aktiv für Friedensverhandlungen eintreten, um aus diesem sinnlos gewordenen Krieg herauszukommen. Ich bin unabhängiger Sicherheits- und Militärexperte und Berater.
Sie waren lange Jahre Militärberater von Angela Merkel im Kanzleramt. Würden Sie rückblickend sagen, dass die deutschen Beziehungen zu Russland auf einer Fehleinschätzung beruhten?
Politik ist ein offener Prozess. In den internationalen Beziehungen entwickelt sich vieles anders, als man es eingeschätzt hat. Wir wissen ja auch nicht, wo genau wir im nächsten Jahr um diese Zeit stehen werden und ob unser außenpolitisches Agieren richtig war und ist. Die Kanzlerin hat nach der Krim-Annexion 2014 alles getan, die Konflikte in einem politischen Prozess, im Rahmen der Verhandlungen Minsk 1 und 2 zu lösen. Aus heutiger Sicht sagen viele, das hätte man sich sparen können. Ich sehe das anders. Deutschland hat damals versucht, aus diesem gefährlichen Konflikt politisch herauszuführen und nicht ausschließlich auf Waffenlieferungen zu setzen. Ich war von 2006 bis 2013 im Kanzleramt tätig. Damals hatten wir eine Sicherheitslage mit Fokus auf Afghanistan. Die Landes- und Bündnisverteidigung und Russland spielten damals eine nachgeordnete Rolle. Die gesamte Dynamik der Entwicklung werden natürlich Historiker bewerten müssen.
Sie verfügen sicher aus Ihrer Zeit im Kanzleramt über zahlreiche Kontakte. Haben Sie versucht, über Ihre Kanäle nach Moskau und Washington Friedensvermittlungen zu starten?
Ich habe natürlich noch aus meiner Zeit im Bundeskanzleramt ein hervorragendes Netzwerk, das ich zur Einschätzung nutze und das sich auch durch meine Tätigkeit als Unternehmensberater mit Schwerpunkt auf Sicherheitsfragen erweitert hat. Aufgrund dessen weiß ich auch, dass das Kriegsgeschehen in der Ukraine in anderen Ländern anders, differenzierter, ausgewogener und realistischer diskutiert und kommentiert wird als in Deutschland. Es ist bedauerlich, dass wir hier nicht so eine offene Debatte über den Ukraine-Krieg hatten, wie sie zum Beispiel in den USA geführt wird. In der deutschen Medienlandschaft nehme ich leider sogar eine ziemlich verblüffende Einstimmigkeit bis hin zu einem Schwarz-Weiß- und Freund-Feind-Denken wahr.
Sie haben die Minsker Verhandlungen angesprochen. Wurden Putin genügend Garantien gegeben, dass die Nato-Osterweiterung vor der Ukraine haltmachen wird?
Die Bundeskanzlerin hatte sehr früh erkannt, welche Gefahren eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine bergen würde. Beim Nato-Gipfel 2008 in Bukarest, als eine Aufnahme der Ukraine und Georgiens thematisiert wurde, waren sie und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy diejenigen, die eine sofortige Aufnahme dieser Länder verhinderten. Angela Merkel wusste, dass das – neben dem innenpolitischen Dissens in der Ukraine – eine rote Linie für die Russen bedeutete, deren Überschreitung, wie im Falle Georgiens geschehen, Krieg zur Folge hätte. Die Nato hat in der Folge einen anderen Weg beschritten. Es wurde weiter die Aufnahme der Ukraine forciert. Das gehört zur nicht gern thematisierten politischen Vorgeschichte des völkerrechtswidrigen russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich gegen die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine ausgesprochen. Hat er die richtige Entscheidung getroffen?
Die Lieferung der Taurus-Systeme hätte das Kriegsgeschehen eskaliert, ohne aber zu einem gewünschten militärischen Wendepunkt des Krieges zu führen. Die Raketen verfügen über eine Reichweite von mehr als 500 Kilometern. Damit fliegen sie mehr als doppelt so weit wie vergleichbare britische und französische Systeme, die die Ukrainer bereits haben. Deshalb finde ich es richtig, dass das Kanzleramt die Lieferung von Taurus verweigert.
Befürworter weiterer Waffenlieferungen argumentieren, die Taurus-Raketen wären ein Gamechanger und könnten Kiew eine bessere Verhandlungsposition sichern. Was sagen Sie dazu?
Den so oft beschworenen Gamechanger bei unserer Militärhilfe gegenüber der Ukraine gab es nie. Im letzten Jahr wurden die Leopard-2-Panzer als Gamechanger bezeichnet. Ein massiver medialer Druck auf das Kanzleramt forderte deren Lieferung an die Ukraine aus den Beständen der Bundeswehr. Aber weder Kampfpanzer, Taurus-Raketen noch die geforderten F-16-Kampfflugzeuge können Wunderwaffen sein und die militärische Gesamtlage zugunsten der Ukraine verändern. Die Ukraine braucht jetzt vor allem dringend Artilleriemunition für die Verteidigung. Auf deren Bereitstellung hat sich die EU einhellig verpflichtet. Doch diese Verpflichtung ist kaum umsetzbar, weil die Mitgliedstaaten nicht die Kapazitäten dazu haben. Die ganze Debatte in Deutschland trägt bisweilen heuchlerische Züge. Manche Politiker übertrumpfen sich in Kriegsrhetorik, obwohl sie wenig von Krieg und Militär verstehen. Wir liefern weiter Waffen an die Ukraine, ohne im Ernst daran zu glauben, dass das zielführend sein kann, und gleichzeitig setzen sich Hunderttausende wehrfähige Ukrainer ins Ausland ab. Allein fast 200.000 von ihnen sind nach Deutschland gekommen, praktizieren quasi eine Kriegsdienstverweigerung light und beziehen Bürgergeld. Ist das kohärente Politik?
Andererseits haben Sie gesagt, dass Russland militärisch der Ukraine überlegen ist. Sollen sich die jungen Ukrainer in einen aussichtslosen Krieg stürzen?
Nein, da haben Sie recht. Es haben sich auch Zigtausende junge Russen abgesetzt, um sich dem Krieg zu entziehen. Dafür habe ich menschlich gesehen natürlich jedes Verständnis. Was mich persönlich belastet, ist, dass die den Kriegsdienst leistenden jungen ukrainischen und russischen Soldaten tausendfach verheizt werden in einem Krieg, für den es keine militärische Lösung gibt. Ich finde es eigenartig, dass am Krieg unbeteiligte Deutsche die größten ukrainischen Patrioten zu sein scheinen. Politiker, die keinen Militärdienst geleistet und jahrzehntelang pazifistisch argumentiert haben, wollen plötzlich für die Ukrainer alles geben und am liebsten „all in“ gehen. Ob das die Glaubwürdigkeit von Politik fördert?
Sie haben schon sehr früh kritisiert, dass Waffenlieferungen an die Ukraine nicht an politisch-diplomatische Initiativen gekoppelt wurden. Fühlen Sie sich durch den Kriegsverlauf in Ihrer Haltung bestätigt?
Bereits im November 2022 hatte der amerikanische Generalstabschef Mike Milley erklärt, dass eine militärische Lösung sehr unwahrscheinlich wird. Die Kräfteverhältnisse können nicht allein durch Waffenlieferungen gedreht werden. Der einflussreiche amerikanische Thinktank Rand Corporation hat diese Sicht bestätigt. Ich habe diese Position in der Ukraine-Debatte vertreten, während viele Leitmedien in Deutschland ein regelrechtes Wunschkonzert veranstalteten: Zuerst wurde im vergangenen Jahr eine Frühjahrsoffensive publizistisch heraufbeschworen. Nachdem diese Fata Morgana verpufft war, sollte es eine Frühsommeroffensive werden, und so weiter. Ich habe keine erfolgreiche ukrainische Militäroffensive wahrgenommen. Es gab vereinzelte Vorstöße, die an keiner Stelle die russische Verteidigung durchstoßen konnten und sich nachhaltig auf das Kriegsgeschehen auswirkten. Spätestens da musste man doch anfangen mit realistischen Schlussfolgerungen, wenn sich – wie es Kurt Biedenkopf einmal sagte – die Realität immer sichtbarer durchfrisst.
Der Krieg in der Ukraine verfestigt sich zu einem Stellungskrieg. Verteidigungsminister Boris Pistorius warnt vor einer „Kriegsmüdigkeit“ der Bevölkerung. Haben Sie den Eindruck, dass in dieser Situation eine breitere Debatte über eine Friedenslösung möglich wird?
Ja, wenngleich die Denk- und Diskurskorridore in Deutschland eng geworden sind. Das finde ich bedauerlich, schließlich leben wir in einem freiheitlich-demokratischen Land und müssen bereit sein, breiter an die Probleme der internationalen Beziehungen heranzugehen; das, was Hannah Arendt einmal „Denken ohne Geländer“ genannt hat. Wir müssen die Weltunordnung um uns herum verstehen lernen, damit wir uns auf die Konflikte von morgen einstellen können. Schließlich nehmen die Krisenherde und Kriegsschauplätze zu. Eine einfache Aufteilung der Welt in Demokratien und Autokratien, in unversöhnliche Freunde und Feinde entspricht weder der zunehmenden Multipolarität der Welt noch kann sie im Interesse Deutschlands liegen.
Vielen Dank für das Gespräch.