OFFENER BRIEF

Ehemaliger Charité-Chefvirologe fordert Umdenken der Bundesregierung

13.04.2021
Lesedauer: 5 Minuten
Detlev Krüger, ehemaliger Chef-Virologe an der Charité, schaltet sich in die Debatte über das Infektionsschutzgesetz ein - Quelle: Norbert Michalke

Er war 27 Jahre Chefvirologe an der Berliner Charité: Detlev Krüger schaltet sich in die Debatte über eine Veränderung des Infektionsschutzgesetzes ein. Er rät dringend davon ab, Restriktionen allein von Inzidenzwerten abhängig zu machen.

it einem offenen Brief an den Deutschen Bundestag haben sich die beiden Gesundheitsexperten Detlev Krüger und Klaus Stöhr in die Debatte über die vom Bundeskabinett angestrebte Veränderung des Infektionsschutzgesetzes eingeschaltet. In dem Schreiben, das WELT vorliegt, heißt es: „Wir raten dringend davon ab, bei der geplanten gesetzlichen Normierung die ‚7-Tages-Inzidenz‘ als alleinige Bemessungsgrundlage für antipandemische Schutzmaßnahmen zu definieren.“

Krüger war 27 Jahre lang Leiter des Virologischen Instituts der Berliner Charité, im Jahr 2017 folgte auf ihn Christian Drosten. Stöhr ist ehemaliger Leiter des Globalen Influenza-Programms der Weltgesundheitsorganisation (WHO); beide stehen einigen Lockdown-Maßnahmen der deutschen Politik im Kampf gegen Covid-19 ablehnend gegenüber.

In dem nun verfassten Brief kritisieren sie die Kopplung von Restriktionen an Inzidenzen scharf. Der Inzidenzwert gebe „aufgrund der durchaus erwünschten Ausweitung von Testaktivitäten zunehmend weniger die Krankheitslast in der Gesellschaft wieder“, schreibt das Duo. Und weiter: „Die im Gesetzesvorhaben vorgesehene 7-Tages-Inzidenz differenziert nicht, in welchen Altersgruppen, Lebensräumen und Bevölkerungsgruppen Infektionen auftreten. Eine gleich hohe Inzidenz kann dramatisch unterschiedliche Bedeutung haben …“

So sei es möglich, dass selbst dann, wenn es weniger Patienten in Krankenhäusern als bei Grippewellen gibt, „massive Einschränkungen der Freiheitsrechte mit gravierenden Auswirkungen auf Wirtschaft, Kultur und die körperliche und seelische Gesundheit erfolgen müssten“.

Krüger und Stöhr schlagen vor, statt auf die Inzidenz auf die täglichen Neuaufnahmen auf den Intensivstationen zu schauen; so könne das aktuelle Infektionsgeschehen und die Auslastung der Krankenhäuser angemessen bestimmt werden.

Den Überlegungen des Duos steht das Vorhaben des Bundeskabinetts gegenüber, verschiedene harte Freiheitsbeschränkungen wie Ausgangssperren ab einer Inzidenz von 100 gesetzlich zu verankern; ab einem Wert von 200 müssten Schulen schließen. Krüger hatte in einem Interview mit WELT im Februar gesagt: „In einer aufgeklärten Gesellschaft kann man Menschen auch durch sachliche Informationen zu ordentlichem Verhalten bewegen. Man sollte Respekt vor diesem Virus haben, aber Angst ist völlig fehl am Platz.“

Krüger und Stöhr schlagen vor, statt auf die Inzidenz auf die täglichen Neuaufnahmen auf den Intensivstationen zu schauen; so könne das aktuelle Infektionsgeschehen und die Auslastung der Krankenhäuser angemessen bestimmt werden.

Den Überlegungen des Duos steht das Vorhaben des Bundeskabinetts gegenüber, verschiedene harte Freiheitsbeschränkungen wie Ausgangssperren ab einer Inzidenz von 100 gesetzlich zu verankern; ab einem Wert von 200 müssten Schulen schließen. Krüger hatte in einem Interview mit WELT im Februar gesagt: „In einer aufgeklärten Gesellschaft kann man Menschen auch durch sachliche Informationen zu ordentlichem Verhalten bewegen. Man sollte Respekt vor diesem Virus haben, aber Angst ist völlig fehl am Platz.“

Der offene Brief im Wortlaut:

Offener Brief an den Deutschen Bundestag

Sehr geehrte Damen und Herren,

eine Novellierung des IfSG zur bundesweiten Vereinheitlichung des Vorgehens gegen die Corona-Pandemie bedarf verlässlicher Entscheidungsgrundlagen. Wir raten dringend davon ab, bei der geplanten gesetzlichen Normierung die „7-Tages-Inzidenz“ als alleinige Bemessungsgrundlage für antipandemische Schutzmaßnahmen zu definieren.

1. Mit „Inzidenz“ bezeichnet das RKI die Zahl der Personen, bei denen unabhängig von einer Erkrankung mittels Diagnostiktest eine Infektion mit SARS-Coronavirus-2 gefunden wurde, pro 100.000 Bevölkerung. Dieser Wert gibt- aufgrund der durchaus erwünschten Ausweitung von Testaktivitäten – zunehmend weniger die Krankheitslast in der Gesellschaft wieder. Zudem unterliegt dieser Wert zunehmend schwankenden Erfassungswahrscheinlichkeiten, die völlig unabhängig vom eigentlichen Infektionsgeschehen sind.

2. Bewertungsgrundlage für die Auswahl von Schutzmaßnahmen sollte nicht die Inzidenz der Infektionen sein, sondern vielmehr die Häufigkeit der Erkrankungen und ihrer jeweiligen Schwere, also insgesamt die Krankheitslast. Die Krankheitslast berücksichtigt unter anderem Hospitalisierungen, krankheitsbedingten Arbeitsausfall, Behinderung und verlorene Lebensjahre.

3. Die im Gesetzesvorhaben vorgesehene 7-Tages-Inzidenz differenziert nicht, in welchen Altersgruppen, Lebensräumen und Bevölkerungsgruppen Infektionen auftreten. Eine gleich hohe Inzidenz kann dramatisch unterschiedliche Bedeutung haben, je nachdem ob sie zum Beispiel bei primär gesunden Studierenden, bei schwer erreichbaren Bevölkerungsgruppen, bei besonders vulnerablen Menschen, oder diffus in der Gesamtbevölkerung verteilt gemessen wird.

4. Die 7-Tages-Inzidenz eines Landkreises berücksichtigt weder die Dynamik noch die Lage in angrenzenden Landkreisen. Eine gleich hohe 7-Tages-Inzidenz kann in einem Szenario (z.B. Verschlechterung der Lage in Nachbarregionen) eine Verschärfung von Maßnahmen erfordern, während sie in einem anderen Szenario (z.B. stark sinkender Trend) gar eine Lockerung erlauben könnte.

Risiken:

In der Konsequenz würde die gesetzlich verbindliche Koppelung von Maßnahmen an die 7-Tages-Inzidenz der Infektionen zur Folge haben können, dass selbst dann massive Einschränkungen der Freiheitsrechte mit gravierenden Auswirkungen auf Wirtschaft, Kultur und die körperliche und seelische Gesundheit erfolgen müssten, wenn längst weniger krankenhauspflichtige Erkrankungen als während einer durchschnittlichen Grippewelle resultierten. Ein solches Szenario ist im Falle eines zunehmenden Impferfolgs durchaus realistisch und zeitlich absehbar.

Die öffentlich derzeit verfügbaren Entwürfe zur Novelle des IfSG verschärfen den Mangel an Sachbezug und die Gefahr einer Verletzung der Verhältnismäßigkeit wie bereits in Bundestagsanhörungen am 12.11.2020 und 22.02.2021 erläutert [1] [2].

Vorgeschlagene Alternative:

Eine leicht zu bestimmende und zu kommunizierende Bemessungsgrundlage wäre die tägliche Anzahl der COVID-bedingten intensivstationären Neuaufnahmen, differenziert nach Landkreis des Patientenwohnortes, Alter und Geschlecht mit Berücksichtigung diesbezüglicher zeitlicher Trends. Dies ist nicht zu verwechseln mit der im DIVI Register derzeit berichteten „Anzahl der mit Covid-19 belegten Intensivbetten“, welche per se auch eine wichtige Information bezüglich der Versorgungslage liefert. Die Zahl intensivstationärer Neuaufnahmen kann die Dynamik des Infektionsgeschehens besser abbilden als die intensivmedizinische Belegungsstatistik[3].

Damit diese Werte zeitnah, vollständig und integriert in der bestehenden digitalen Meldestatistik den Kommunen, Landesbehörden und des RKI verfügbar werden, müssten lediglich kleinere Anpassungen in den Paragraphen 6 und 11 des IfSG vorgenommen werden.

Wir bitten Sie daher Ihren Einfluss geltend zu machen, die aktuell anstehende Änderung des IfSG so zu gestalten, dass die inzwischen von vielen als schädlich – mindestens als unwirksam – erkannten Folgen des im November geschaffenen § 28a IfSG, korrigiert und nicht noch verschärft werden.

Für fachliche Rückfragen stehen wir gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen,

Prof. Dr. med. Detlev H. Krüger* Prof. Dr. Klaus Stöhr**

* Direktor i.R. des Instituts f. Virologie der Charité Berlin

** Ehem. Leiter des Globalen Influenza und Pandemievorbereitungsprogrammes der WHO Genf

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