Messerattacke im ICE

«Diese Äusserung des Tatverdächtigen macht mich schon sehr stutzig»

13.11.2021
Lesedauer: 8 Minuten
Tatort ICE: In dem kleinen bayrischen Ort Seubersdorf kam der Zug nach der Messerattacke zum Stehen. Vifogra/AP

Der syrische Flüchtling, der im Zug auf Menschen eingestochen hat, soll schuldunfähig gewesen sein. So lautet das vorläufige Urteil des Gutachters. Aber stimmt es? Der Tübinger Gerichtspsychiater Peter Winckler hat Zweifel: Dass ein Tatverdächtiger den Polizisten zurufe, er sei krank, passe überhaupt nicht zu einer akuten Schizophrenie.

Der 27-jährige Syrer, der kürzlich mit einem Messer in einem ICE in Bayern auf Mitreisende eingestochen hat, sei zur Tatzeit schuldunfähig gewesen. Das sagt der zuständige Gutachter. Er habe bei dem Mann paranoide Schizophrenie und wahnhafte Vorstellungen festgestellt. Können Sie und Ihre Kollegen wirklich so schnell eine Beurteilung abgeben, Herr Winckler?

Das kommt darauf an. Es gibt gerade im Bereich der Schizophrenie Patienten, die eine so eindrückliche und vollständige Symptomatik bieten, dass man relativ schnell zumindest eine fundierte Verdachtsdiagnose stellen kann. Zu der Symptomatik gehören Wahnvorstellungen und Halluzinationen, typischerweise in Form von Stimmen, ausserdem Störungen der formalen Denkabläufe; die Patienten sind nicht mehr in der Lage, klare gedankliche Strukturen zu formulieren, sondern reden völlig verworren. Störungen der Affekte und Antriebsstörungen sind ebenfalls typisch.

Und wenn nicht alle Symptome vorliegen?

Je mehr klassische Symptome fehlen oder je widersprüchlicher diese sind, desto schwieriger ist die Diagnose.

Im vorliegenden Fall soll der Tatverdächtige vor seiner Festnahme gerufen haben: «Ich bin krank, ich brauche Hilfe!» Da denkt man als Laie: So spricht doch niemand, der unter Wahnvorstellungen leidet.

Das sehen nicht nur Sie als Laie, das sehe auch ich als Psychiater so. Zu den eindrücklichsten Eigenheiten akuter schizophrener Krankheitsbilder gehört, dass der Patient objektiv völlig bizarre und realitätsferne Dinge äussert, zugleich aber felsenfest von diesen überzeugt ist. Er ist eben nicht in der Lage, den Wahnsinn, den er produziert, als Krankheitssymptomatik einzustufen. Ich habe den genannten Fall auch in der medialen Berichterstattung verfolgt. Wenn der Tatverdächtige den Polizeibeamten vor der Festnahme zuruft, er sei krank, dann passt das nicht in das charakteristische Bild einer akuten Schizophrenie. In der Regel sind diese Patienten vollkommen krankheitsuneinsichtig. Als Psychiater sage ich zwar: Never say never. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Aber diese Äusserung des Tatverdächtigen bei der Festnahme macht mich schon sehr stutzig.

2500 Gutachten in drei Jahrzehnten: der Gerichtspsychiater Peter Winckler.
2500 Gutachten in drei Jahrzehnten: der Gerichtspsychiater Peter Winckler. Privat

In den Leserkommentaren unter Medienberichten über den Fall haben sich sehr viele Menschen ähnlich geäussert.

Zu Recht. Wenn beispielsweise jemand, dem in einem forensischen Kontext womöglich eine Strafe droht, seinem Gutachter erzählt, er habe Halluzinationen, dann muss das misstrauisch machen. Zum Wesen der Halluzination gehört, wie gesagt, dass der Betroffene diese nicht als Halluzination einstufen kann. Für den schizophren Kranken ist eine Stimme, die er hört, unmittelbare Realität. Der sagt nicht «Ich habe Halluzinationen», sondern guckt zur Steckdose und fragt entrüstet: «Warum kommen da Stimmen raus?» Das Gleiche gilt im Prinzip auch für die Mitteilung: «Ich bin krank.»

Woran erkennen Sie noch, dass jemand schwindelt?

Ein typisches Phänomen, das man nicht willentlich simulieren kann, sind die formalen Denkstörungen, die bei schweren psychiatrischen Krankheitsbildern regelhaft auftreten. Wenn jemand eine ausgeprägte halluzinatorische oder wahnhafte Symptomatik hat, darüber aber stimmig und detailreich berichtet, dann kann das ein Indiz für einen Schwindel sein.

Den Eindruck, dass Menschen unter formalen Denkstörungen leiden, hat man heute recht häufig, vor allem in den sozialen Netzwerken. Wann liegt ein Krankheitsbild vor?

Das merken Sie schnell. Solche Menschen sind nicht mehr in der Lage, klare Sätze zu formulieren. Da brechen Gedanken plötzlich ab, oder es geht mitten im Satz plötzlich um etwas ganz anderes. Ein gesundes Gehirn bekommt so etwas gar nicht hin. Als ich noch an der Universität tätig war, haben wir Jura-, Medizin- und Psychologiestudenten Aufnahmen von Patienten mit formalen Denkstörungen vorgespielt und sie dann aufgefordert, diese nachzuahmen. Das hat keiner hinbekommen.

Sollte sich der Tatverdacht bei dem Fall im ICE bestätigen, wäre es nicht die erste aufsehenerregende Gewalttat eines Flüchtlings in Deutschland. Und es wird wohl leider nicht die letzte bleiben. Gibt es nach Ihrer Einschätzung einen Zusammenhang zwischen Migrationserfahrungen und psychischen Problemen, die sich später im schlimmsten Fall in Gewalt entladen?

Das ist nicht mein Fachgebiet, da kann ich, um wissenschaftlich korrekt zu argumentieren, nur sehr zurückhaltend antworten. Was man sicher sagen kann: Eine solche Migrationsbiografie ist nichts Gesundes, sondern zwangsläufig mit erheblichen Belastungen verbunden. Aber ich würde eher nicht von einem signifikant gesteigerten Risiko für eine Psychose bei Migrationsbiografien ausgehen. Es gibt eine umfangreiche klinische Forschung zu sogenannten «Life-Events». Die geht der Frage nach, welche Faktoren dieses Risiko erhöhen. Da spielen andere Faktoren eine statistisch relevantere Rolle, vor allem die Gene oder der Drogenkonsum.

Welche Belastungen könnten bei Asylbewerbern eine Rolle spielen?

Die soziale Isolation, die fehlenden Kontakte, die Sprachbarriere, das Fremdeln mit dem kulturellen Umfeld: All das kann dazu führen, dass schwere psychiatrische Erkrankungen lange unentdeckt bleiben. Die köcheln unter Umständen lange vor sich hin, und irgendwann knallt es.

Was kann ein Staat tun, um diese Gefahr einzudämmen? Müsste man beispielsweise in jedem Flüchtlingsheim eine psychiatrische Betreuung anbieten?

Schwierig. Da gäbe es Akzeptanzprobleme. Psychiatrische Erkrankungen sind beispielsweise in afrikanischen Ländern stark stigmatisiert, ganz anders als in Westeuropa oder in Amerika, wo es mittlerweile erfreulicherweise längst keine Schande mehr ist, wenn man zum Psychiater geht. Was vermutlich helfen würde, ist eine Sensibilisierung der Betreuungspersonen: Die dürfen den Verdacht auf psychische Probleme nicht aus falscher Rücksichtnahme unter den Teppich kehren.

Was bedeutet eigentlich Schuldfähigkeit?

Sie fragen hier einen forensischen Psychiater. Wir sind nur die Helfer der Gerichte. Die müssen die Schuldfrage letztlich juristisch beantworten.

Wir sind aber nicht bei Gericht, und mich interessiert Ihre Antwort.

Schuld, Schuldfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit sind nichts Objektives, für alle Zeit in Stein Gemeisseltes, sondern normative Setzungen spielen hierbei eine grosse Rolle. Diese Begriffe unterliegen gesellschaftlichen Konventionen. Es gab Phasen in der Menschheitsgeschichte, da hat man den Begriff Schuld besonders streng ausgelegt. Und es gab Phasen, da war man eher grosszügig. Im Moment befinden wir uns in einer Phase, in der wir ein sehr differenziertes Verständnis dieser Begriffe haben, und das finde ich erfreulich. Im Kern geht es um Willensfreiheit. Die erste Säule der Schuldfähigkeit ist die Einsicht in etwas Verbotenes: Ist jemand von seinen kognitiven und psychischen Fähigkeiten her in der Lage, Unrecht zu erkennen? Die zweite Säule betrifft die Frage, ob jemand wegen einer schweren psychischen Störung nicht mehr in der Lage war, seinen inneren Wutimpulsen und aggressiven Strebungen den gebotenen inneren Widerstand entgegenzusetzen. Das Erste nennen wir Einsichtsfähigkeit, das Zweite Steuerungsfähigkeit. Die beiden zusammen bilden die Grundlage der Schuldfähigkeit. Ich gebe Ihnen viel zu lange Antworten, oder?

Gar nicht. Das ist alles sehr lehrreich. Wie viele Gutachten haben Sie in den drei Jahrzehnten, in denen Sie bei Gericht arbeiten, eigentlich erstellt? Haben Sie mitgezählt?

Etwa zweieinhalbtausend.

Wie oft hatten Sie später das Gefühl, «Mist, ich lag falsch»?

Das ist eine schwierige Frage. Wer entscheidet über richtig und falsch? Das ist ein grosses methodisches Problem, das über jedem Gutachten, aber auch über jedem Urteil schwebt. Nicht jedes rechtskräftige Urteil ist auch richtig im Sinne von objektiver Wahrheit. Wir können nur sagen: Es entsprach den Regeln. Ein Bereich der Forensik, der besonders herausfordernd ist, sind Prognosegutachten. Da werden Sie sehr direkt mit Fehlern konfrontiert. Soll jemand, der längere Zeit im Gefängnis oder in der Psychiatrie untergebracht war, entlassen werden oder nicht? Besteht die in seinen Taten ursprünglich zum Ausdruck gekommene Gefährlichkeit noch, oder ist sie im Zeitverlauf durch eine Behandlung oder eine innere Einstellungsänderung abgeklungen? Worst-Case-Szenario: Sie geben jemandem, der in seiner Vergangenheit einen oder gar mehrere Menschen umgebracht hat, eine gute Prognose, und binnen Jahresfrist begeht er die nächste schwere Straftat.

Ist Ihnen das schon passiert?

Zum Glück nicht! Ich kenne aber Kollegen, denen das passiert ist.

Kommt es vor, dass Sie sich bei einem Angeklagten oder Strafgefangenen nicht sicher sind, welches Gutachten Sie abgeben sollen?

Ja, das kommt vor. In solchen Fällen lege ich das offen: Für die eine Betrachtung spricht dieses, für die andere Betrachtung jenes, und was richtig ist, kann ich nicht beurteilen. Dann ist es Aufgabe des Richters, mit dieser Unsicherheit umzugehen.

Das haben Richter vermutlich nicht so gerne, oder?

Es gibt schon die Erwartungshaltung, dass die Gutachter im Gerichtssaal klare und prägnant formulierte Gutachten vorlegen. Und das kann einen erheblich unter Druck setzen. Ich kann es mir leisten, zu sagen: «Ich weiss es nicht», weil ich nach dreissig Jahren weiss, was ich kann, und weil die Richter wissen, was ich kann. Aber für einen Gutachter mit weniger Berufserfahrung kann die Offenbarung der eigenen Grenzen sehr belastend sein.

Was muss ein Gerichtsgutachter neben Fachwissen noch mitbringen? Eine stabile Psyche ist vermutlich auch hilfreich, oder? Sie sind tagein, tagaus mit Gewalt und Wahnsinn konfrontiert.

Psychische Stabilität ist eine Grundvoraussetzung. Man muss aber vielleicht selbst auch ein bisschen gestört sein.

Das müssen Sie erklären.

Was ich meine, ist, dass man sich für die menschlichen Abgründe interessieren muss, für Gewalt, für sexuelle Abartigkeiten, für das Dunkle in der menschlichen Psyche. Ist das jetzt eine Störung, etwa eine Art Voyeurismus, oder normale Neugier, wie sie auch ein Krimileser kennt? Darüber könnten wir trefflich streiten.

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