Die türkisch-niederländische Autorin Lale Gül schreibt einen autobiografischen Roman über ihren Ausbruch aus der konservativen muslimischen Gemeinschaft. Das Buch wird zum Bestseller, und sie wird mit dem Tod bedroht. War es das wert? Ja, sagt sie.
Als die Studentin eines Morgens vor dem Spiegel steht und das Tuch auf ihren Kopf legt, um es mit einer Nadel festzumachen, lässt sie die Hände sinken. Gerade eben hat sie noch überlegt, welche Farbe zu ihren Kleidern passen würde – das rote, das beige, das schwarze? Jetzt spürt sie bloss noch einen Widerwillen.
«Warum trage ich dieses Tuch überhaupt noch?», fragt sie sich. «Wie weit reicht meine Bereitschaft, mich selbst zu quälen, um den Wünschen meiner Unterdrücker zu entsprechen?» Sie sei die junge Frau, die sie im Spiegel sehe, ohne Kopftuch, mit verweinten Augen und einer Rotznase. Sie hat sich am Vorabend von ihrem Freund getrennt, weil sie die Heimlichkeit nicht mehr aushielt. «Unter jedem Kopftuch ist eine vernachlässigte Frau verborgen», denkt sie, zieht die Jacke an und verlässt das Haus.
Die symbolische Geste des Tuchablegens ist der Anfang einer Befreiung, die dazu führen wird, dass sich Lale Gül verstecken muss. Die junge niederländische Autorin beschreibt die Szene in ihrem autobiografischen Roman «Ik ga leven», der nun unter dem Titel «Ich werde leben» auf Deutsch erscheint.
Das Debüt der 24-Jährigen löste in der muslimischen Gemeinschaft, in der Gül im Westen von Amsterdam aufgewachsen ist, ein Erdbeben aus. Gül ist die Tochter türkisch-konservativer Einwanderer. Der Vater war Briefträger, die Mutter wollte ihrer Tochter vor allem die richtige Erziehung zukommen lassen, damit sie vom Elternhaus weg Ehefrau eines strenggläubigen Muslims würde. «Karbunkel», Eiterbeule, nennt Gül ihre Mutter im Buch: eine Analphabetin, die kein Wort Niederländisch spricht und ihre Tochter «Hure» nennt, wenn diese sich schminkt.
Sicherheitsvorkehrungen, wo sie auftritt
Als das Buch draussen war, wurde Lale Gül von Freunden angefeindet und von ihrer Familie verstossen. Sie erhielt Morddrohungen, wagte sich nicht mehr allein auf die Strasse, fuhr im Taxi und nahm nur an Lesungen oder Fernsehdebatten teil, bei denen für ihre Sicherheit garantiert war. An öffentliche Veranstaltungen eingeladen, das wurde sie in den vergangenen Monaten oft. Ihr Buch sorgte für Kontroversen und stand bald an der Spitze der Bestsellerlisten. Nun soll es verfilmt werden.
Über ein Jahr später bewegt sich Lale Gül immer noch nicht frei. Um nicht sofort erkannt zu werden, trägt sie draussen eine Mütze. So auch an diesem Nachmittag auf dem Weg zu ihrem Verlag im Grachtengürtel von Amsterdam, wo sie ein Videogespräch mit der NZZ führt. Messerscharfer Lidstrich, die langen Haare sind vom Bild beschnitten.
Sie könne nicht abschätzen, wie gefährdet sie immer noch sei, sagt Lale Gül. Sie erhalte weiterhin Drohnachrichten: Du wirst sterben. Nimm dich bloss in acht. Sie blockiere die Absender, versuche weiterzuleben. «Ich gewöhne mich daran.»
Mit diesem Hass gerechnet hat Gül dennoch nicht. Als die Fotos mit den Pistolen und Maschinengewehren eintrafen oder das Video mit dem IS-Lied, da bekam sie Angst. Sie reichte Klage ein und fragte sich: «War es das wert?» Die Frage beantwortet sie heute mit Ja.
Zu ihren Eltern hat sie keinen Kontakt mehr. In ihrer Anklage gibt sie einen schonungslosen Einblick in den «Fanatikerhaushalt», wie sie ihr Elternhaus nennt. Sie wurde zur Verräterin, indem sie die repressive Moral des islamischen Glaubens kritisiert, für den ihre «Erzeuger» leben. Sie hält dabei nicht mit Spott zurück.
Detailliert beschriebene Sexszenen
«Ich werde leben» macht deutlich, dass es diese Radikalität braucht, um sich loszureissen. Lale Güls Reise in ein säkulares Leben ist schmerzhaft. Die Ich-Erzählerin unternimmt viele Versuche, die Vorschriften des Korans und der muslimischen Gemeinschaft zu brechen und so zu leben wie andere junge Menschen auch.
Sie jobbt in einem Restaurant, zieht enge Röcke an, trinkt Alkohol, hat wilden Sex mit ihrem Freund, dem Sohn einer niederländischen Familie, die die rechtspopulistische Partei von Geert Wilders wählt. Alles heimlich und immer mit dem Risiko, vor den Eltern aufzufliegen, die sie mit ständigen Telefonanrufen kontrollieren. Widersetzt sie sich, schlägt ihre Mutter zu oder kneift sie, bis sie blaue Flecken hat.
Lale Gül besucht die Grundschule und kann immerhin studieren. Sie schliesst in Niederlandistik ab. Schon früh verbringt sie viel Zeit in der Bibliothek, schaut niederländisches Fernsehen. Sie beginnt zu hinterfragen, weshalb sie als Mädchen all die schönen Dinge nicht tun darf, die ihrem älteren Bruder erlaubt sind. Am Strand liegen, Selfies posten. Jungs dürfen Mädchen daten, sofern es keine muslimischen Mädchen sind. Denn im Gegensatz zu den ungläubigen «Schlampen» muss die spätere Braut Jungfrau sein. So wachen auch Lale Güls Eltern über ihren «Rohdiamanten».
Bloss rebelliert dieser Rohdiamant und beschreibt es in auskostenden Details. «Ein Orgasmus war der grösstmögliche mir bekannte Genuss im Leben», heisst es im Buch. «Ich verstand nun, warum im Islam so oft über Sex und Jungfrauen im Paradies gesprochen wurde. Ich würde mich ebenfalls freiwillig dafür melden.»
Feministinnen schweigen
Lale Gül zog mit solchen Aussagen nicht nur den Zorn von strenggläubigen Muslimen auf sich. Sondern geriet mit ihrem Coming-out auch zwischen die politischen Fronten. In den Niederlanden wird heute offen über das Scheitern des multikulturellen Integrationsmodells diskutiert, auf das das Land lange stolz war.
Die Rechtspopulisten wollten die Autorin für ihre islamkritischen Zwecke einspannen. Geert Wilders, Vorsitzender der Partei für die Freiheit (PVV), lobte Güls Mut und sah in ihrer Erfahrung den Beweis erbracht, dass sich der türkische Islam nicht integriert.
Auf der anderen Seite scheuten sich Linke und Feministinnen, Lale Güls Erfahrungen zu bewerten. Sie halten es für eine Anmassung, über eine Kultur zu urteilen, der sie nicht angehören.
Von diesem kulturellen Relativismus gibt Gül in ihrem Buch ein Beispiel: Ein Mitglied der Arbeiterpartei kommt eines Tages in die Koranschule, die Gül als Kind am Wochenende besuchen muss. Die Frau verteilt vor den Wahlen Flyer an die Schüler mit der Empfehlung an deren Eltern, «sozial» zu wählen. Allein mit ihrer Wortwahl lässt die Autorin durchblicken, für wie verlogen sie diese «inklusive Linke mit ihren hocherhobenen Regenbogenflaggen» hält.
Linke warfen ihr vor, dass sie den Rechten zuspiele mit ihrer Islam-Kritik. Sie bestätige extreme Meinungen und schüre so Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Progressive islamische Autoren wiederum fanden ihre Geschichte der unterdrückten Frau stereotyp und antifeministisch.
«Was hätte ich denn tun sollen?», sagt Lale Gül. «Ich erzähle meine Geschichte, wie ich sie erlebt habe. Ich kann keine Rücksicht darauf nehmen, was Rechte oder Linke von mir erwarten.»
Parallelen zu Ayaan Hirsi Ali
Natürlich musste sie sich auch viele fremdenfeindliche Sprüche anhören, als sie noch ein Kopftuch trug. Als besonders rassistisch erlebe sie die Niederlande aber nicht, sagt sie. In der Familie ihres Freundes war sie willkommen, trotz deren migrationskritischer Haltung. Sie verstanden zwar nicht, weshalb sie ein Kopftuch trug – weil ihr eingetrichtert wurde, Männer würden sonst sexuell erregt. Sie fanden das rückständig und ermunterten sie, ihre schönen Haare zu zeigen. Dennoch respektierten und tolerierten sie die junge Frau.
«Ich konnte mit ihnen über alles diskutierten», sagt Lale Gül. «Meine Eltern hingegen hätten meinen Freund nie akzeptiert, da er kein Muslim war. Wenn jemand intolerant oder rassistisch ist, dann meine Eltern.»
Lale Güls Geschichte und die heftigen Reaktionen auf ihr Buch erinnern an die Islamkritikerin und gebürtige Somalierin Ayaan Hirsi Ali, die Anfang 2000 in den Niederlanden lebte. Wegen Aussagen über den fundamentalistischen Islam musste sie ebenfalls Polizeischutz anfordern und untertauchen. Sie zog 2006 in die USA. Lale Gül, die Hirsi Ali bei einem gemeinsamen Zoom-Interview kennenlernte, zieht nun vorerst in eine kleinere niederländische Stadt, wo sie nicht mehr jeder kennt, so hofft sie.
Allerdings begegneten ihr heute die meisten Leute auf der Strasse freundlich, sagt Gül. Politikerinnen und Politiker unterstützen sie, auch Linke. Sie verurteilten die Anfeindungen von Muslimen und nahmen sie vor den linken Rassismusvorwürfen in Schutz. Die Stadt Amsterdam kam für ihr Versteck auf. Ein Zeichen dafür, dass die Stadt die Freiheit des Denkens verteidigt.
Sie macht vielen anderen Mut
Ja, es war es wert, sagt Lale Gül also. Sie habe zwar ihre Anonymität verloren. Aber gleichzeitig sieht sie, wie ihre Geschichte andere ermutigt. Junge Musliminnen, Homosexuelle, aber auch Christen und Juden, für die die Religion, wie sie in ihrer Familie gelebt wird, ein Gefängnis ist.
Diese lesen ihr Buch oder ihre wöchentliche Kolumne, die sie für eine Amsterdamer Zeitung schreibt, und bedanken sich bei ihr. Oder sie hören ihren Podcast, den sie mit einem Kollegen betreibt, der sich ebenfalls von seiner konservativen muslimischen Familie losgesagt hat.
Nachdem sie sich zurückgezogen hatte und auch auf Social Media verstummt war, kehrte Lale Gül bald wieder in die Öffentlichkeit zurück. Denn sie kann nicht schweigen. Allein deshalb nicht, weil sonst jene, die sie zum Schweigen bringen wollen, ihr Ziel erreicht hätten.
Lale Güls Abrechnung ist radikal und kennt wenige Schattierungen. Und doch klingt sie, die sich als Atheistin bezeichnet und sich säkularen Türken verbunden fühlt, dann doch versöhnlich. Sie würde niemanden zur Abkehr vom Glauben überreden wollen, sagt sie. Solange man die überlieferten Glaubenssätze kritisch hinterfrage, solle einem der Raum, den die Religion biete, unbenommen sein.
Und was würde sie ihren Kindern als wichtigste Botschaft mitgeben? Dass es nicht nur eine Wahrheit gibt.
Lale Gül: Ich werde leben. Aus dem Niederländischen von Dania Schüürmann. Suhrkamp, 2022. 349 S.