Chiles Wähler sind gespalten wie nie. Der ultrarechte Präsidentschaftskandidat holt nur knapp mehr Stimmen als der ultralinke. Nun steht eine Stichwahl der Extreme an.
In Chile hat der deutschstämmige Rechtskonservative José Antonio Kast die erste Runde der Präsidentenwahl gewonnen. Allerdings liegt er nur knapp vor dem Linkskandidaten und ehemaligen Studentenführer Gabriel Boric. Damit dürfte es am 19. Dezember eine Stichwahl der beiden Bewerber vom jeweils äußersten rechten und linken politischen Rand geben, weil keiner von ihnen den nötigen Stimmenanteil von 50 Prozent erreicht hat.
Wie das Wahlamt in der Nacht zum Montag mitteilte, kam der Rechtspolitiker Kast, der Sohn eines bayerischen Wehrmachtoffiziers, nach Auszählung von mehr als 90 Prozent aller Stimmen auf einen Anteil von 28,1 Prozent. Für den jungen Linkspolitiker Boric stimmten den Angaben zufolge 25,6 Prozent der Wähler. Die Amtszeit des bisherigen Präsidenten Sebastián Piñera endet im März.
„Heute hat das chilenische Volk gesprochen“, sagte Kast in einer Rede vor seinen Anhängern nach der Bekanntgabe der Ergebnisse. Wie schon während des gesamten Wahlkampfs thematisierte er Kriminalität und Gewalt und griff damit die Ängste vor Einwanderung und gewalttätigen Protesten auf.
Der Ausgang der ersten Wahlrunde macht aber deutlich, wie gespalten die chilenische Gesellschaft ist. Zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 haben es die traditionellen Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien nicht einmal in die Stichwahl geschafft. Das traditionelle Parteiengefüge ist damit vorerst Geschichte. Kast und Boric repräsentieren entgegengesetzte Pole des politischen Spektrums in dem südamerikanischen Land mit seinen 19 Millionen Einwohnern.
Für Überraschung sorgte zudem der Wirtschaftswissenschaftler Franco Parisi, der auf gut 13 Prozent der Stimmen kam und damit deutlich bekanntere Kandidaten wie Sebastián Sichel vom Regierungsbündnis Chile Vamos und die frühere Senatspräsidentin Yasna Provoste von der christdemokratischen Partei auf hintere Plätze verwies. Der libertäre Politiker lebt noch nicht einmal in Chile und landete dennoch auf dem dritten Platz.
Chile steht nun an einer Wegscheide. Die Abstimmung sei eine Wahl zwischen „Freiheit und Kommunismus“, sagte Kast in einer Anspielung auf Borics breites Linksbündnis, zu dem auch die Kommunistische Partei gehört.
Kriminalität und Gewalt im Land gaben Kast Auftrieb
Insgesamt stellten sich sieben Kandidaten zur Wahl für die Nachfolge von Präsident Sebastián Piñera. Außerdem wurden das gesamte Unterhaus und der halbe Senat neu gewählt. Nach einem polarisierenden Wahlkampf hatte es Umfragen zufolge bis zum Schluss eine große Zahl unentschlossener Wählerinnen gegeben. Aufgrund der hohen Wahlbeteiligung mussten mehrere Wahllokale länger geöffnet bleiben als vorgesehen.
Viele Bürger sind unzufrieden mit der konservativen Regierung und dem neoliberalen Wirtschaftsmodell, das seit Jahrzehnten die politischen Koordinaten des Landes bestimmt. Diese Unzufriedenheit mit den sozialen Missständen hatte die Kandidatur des gerade einmal 35 Jahre alten Boric vom linken Wahlbündnis Apruebo Dignidad (Ich stimme der Würde zu) beflügelt, der über weite Strecken einen komfortablen Vorsprung hatte.
Boric hatte im Wahlkampf für den Ausbau des Sozialstaats, Klimaschutz und Frauenrechte geworben. In seiner Rede in der Nacht sprach er auch die Themen Kriminalität und Drogenhandel an, was er vor der Wahl nur selten getan hatte. Er räumte ein, dass er seine Unterstützerbasis verbreitern müsse. „Der Leitgedanke ist, dass die Hoffnung über die Angst siegt“, sagte er.
Boric hatte sich schon als Studentenführer für bessere Bildung eingesetzt und sitzt seit 2014 im chilenischen Kongress. Er wird von einem breiten Bündnis unterstützt, zu dem auch die Kommunisten gehören. Zu seinen Wahlversprechen gehören eine Rentenreform, höhere Steuern für „Superreiche“, höhere Sozialleistungen und Umweltschutz. Mit 35 Jahren wäre Boric der jüngste Präsident in der Geschichte des modernen Chiles.
Die zunehmende Kriminalität und politische Gewalt in Chile haben indes dem rechten Kandidaten Kast Auftrieb gegeben. Der 55-Jährige tritt für die neu gegründete Republikanische Partei an. Der Katholik hat neun Kinder, betont Familienwerte und beschimpft Zuwanderer, insbesondere aus Venezuela und Haiti, die er für Verbrechen verantwortlich macht. Kast will Steuern senken, die Zuwanderung begrenzen und hart gegen Kriminelle vorgehen. Er hat sich nie deutlich von Pinochets Militärdiktatur (1973-1990) distanziert und sympathisiert mit dem ultrarechten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Manche chilenische Medien stufen Kast als Rechtsextremisten und Faschisten ein.
Die soziale Ungleichheit ist groß
Lange galt Chile als leuchtendes Beispiel in der von Armut, Gewalt und politischer Unruhe geprägten Region. Das Land hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika, die Armut konnte in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesenkt werden. Trotzdem fühlen sich immer mehr Menschen abgehängt. Weite Teile des Gesundheits- und Bildungswesens sind privatisiert, die soziale Ungleichheit ist groß.
Vor zwei Jahren war es deshalb zu heftigen Protesten für mehr soziale Gerechtigkeit und gegen das während der Diktatur etablierte Wirtschaftsmodell gekommen, das während der vergangenen Jahrzehnte weitgehend unangetastet geblieben war. Präsident Piñera stimmte schließlich einer Verfassungsreform zu. Eine im Mai eigens dazu gewählte Versammlung arbeitet an einem neuen Grundgesetz, das im nächsten Jahr fertiggestellt werden soll.
Chile steckt jedoch in der Krise. Wegen Brandanschlägen und Attacken radikaler Indigener vom Volk der Mapuche hat die Regierung in einigen Regionen im Süden des Landes den Notstand ausgerufen. Präsident Sebastián Piñera entging in der vergangenen Woche nur knapp einem Amtsenthebungsverfahren wegen eines fragwürdigen Bergbaudeals.