In den kommenden Wochen wird eine Überlastung Italiens wegen steigender Zahlen von Bootsmigranten befürchtet. Die große Koalition sperrt sich gegen ein freiwilliges EU-Verteilsystem. Die Grünen aber finden, Deutschland solle sich „analog zu seiner Bevölkerungsstärke“ beteiligen.
Wie fragil die Lage an den EU-Außengrenzen ist, zeigte sich Mitte Mai an der nordafrikanischen Küste. Innerhalb weniger Stunden brachen Tausende Migranten aus Marokko zur spanischen Exklave Ceuta auf. An der Küste gingen sie bis zum Grenzzaun, schwammen um eine Mole herum und standen plötzlich auf europäischem Boden. Viele von ihnen wurden inzwischen von den spanischen Behörden zurück nach Marokko abgeschoben.
Die Bilder des Zwischenfalls aber gingen um die Welt und mit ihnen die Botschaft: Die Situation an den Außengrenzen ist keinesfalls unter Kontrolle. Sie kann sich wieder verschärfen – und damit die Spannungen über die richtige Migrationspolitik in der EU.
Zuletzt war es zwar vergleichsweise ruhig. Weniger als 30.000 Migranten hätten sich in den ersten fünf Monaten des Jahres über das Mittelmeer auf den Weg nach Europa gemacht, sagt der Migrationsexperte Gerald Knaus vom Berliner Thinktank Europäische Stabilitätsinitiative. Das seien weit weniger als 2015, als im ersten Halbjahr laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk rund 137.000 Menschen über dieselben Routen kamen.
Verantwortlich ist zum einen eine rigidere Migrationspolitik Griechenlands, das die vergangenen Monate nutzte, um den Grenzschutz mithilfe der EU deutlich auszubauen. Mit Tränengas und meterhohen Zäunen gehen die Grenzschützer inzwischen gegen illegale Migranten vor.
Die Türkei hält zum anderen viele Menschen zurück, die sich in die EU aufmachen wollen, und erhält dafür im Gegenzug finanzielle Unterstützung aus Brüssel. Auch mit Marokko gibt es ein Abkommen: Das nordwestafrikanische Land erhält Geld und investiert dafür in den Grenzschutz.
Der Zwischenfall in Ceuta aber zeigt, wie wenig verlässlich solche Vereinbarungen sind. Und dann gibt es noch die Länder Tunesien und Libyen, aus denen wegen der zum Teil unhaltbaren Zustände vor Ort ebenfalls Menschen nach Europa übersetzen. Wenn die Temperaturen steigen, könnten es wieder mehr werden.
Bilder von überfüllten Schlauchbooten und Seenotrettern, die an der Einfahrt in EU-Häfen gehindert werden, könnten in die Sommermonate fallen – und damit in die Zeit des Bundestagswahlkampfs. Vor allem aber könnte die Zahl der Menschen, die auf der Überfahrt ertrinken, wieder steigen.
Womit die Fragen im Raum stehen: Wie bereitet sich die EU darauf vor? Und wie die Bundesrepublik?
Unionsfraktion lehnt Hilfe für Italien ab
Sehr deutlich äußerte sich in diesem Zusammenhang vor Kurzem EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Nämlich mit Forderungen nach einer besseren Lastenverteilung. Von der italienischen Zeitung „La Repubblica“ gefragt, wie Italien und die EU „diesen Sommer überstehen“ sollen, erklärte sie, sie sei mit den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten in Kontakt, „um auf freiwilliger Basis ein Netzwerk von Staaten aufzubauen, das Italien in den Sommermonaten helfen kann“. Im Moment sondiere sie, wie groß die Bereitschaft sei. Sie denke aber, dass Italien „Hilfe bei der Umverteilung“ bekommen werde.
Damit könnte sich ein Verfahren wiederholen, das die EU schon 2019 ausprobierte. Über sechs Monate nahmen rund ein Dutzend EU-Staaten Italien und Malta Migranten ab, die aus Seenot gerettet worden waren – darunter Deutschland. Allerdings wurde diese Umverteilung damals eindeutig als „vorübergehender Notfallmechanismus“ etabliert. Man wollte eine dauerhafte einseitige Lastenübernahme durch wenige EU-Staaten vermeiden.
Im Frühjahr vergangenen Jahres lief das Programm aus, auch wegen der Corona-Pandemie. Eine grundlegende Reform des europäischen Asylsystems sollte die Ad-hoc-Politik ohnehin ersetzen. Doch dazu kam es bislang nicht; die EU-Staaten konnten sich nicht einigen. Auch deswegen stehen auch in diesem Jahr erneut Notfalllösungen im Raum.
Unzufrieden ist darüber die große Koalition, die die Vorschläge der EU-Innenkommissarin brüsk ablehnt. „In Italien sind bis Mitte Mai dieses Jahres rund 13.000 Migranten angelandet“, sagt Unionsfraktionsvize Thorsten Frei (CDU) WELT. „Das ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ein deutlicher Anstieg, aber sicherlich nichts, was Italien nicht alleine bewältigen könnte.“ In Deutschland seien in diesem Jahr bis Ende April 38.000 Asylerstanträge gestellt worden. Er sehe deswegen nicht, dass es eines Notfallmechanismus bedürfe, sagt Frei. „Auch eine deutsche Beteiligung ist vor diesem Hintergrund ausgeschlossen.“
Ähnlich ablehnend reagiert die SPD. „Es besteht aktuell kein Bedarf zur Unterstützung“, sagt ihr migrationspolitischer Sprecher Lars Castellucci. „Italien sollte selbst einen Beitrag zur Verringerung illegaler Migration leisten, indem legale Wege beispielsweise zur Arbeitsaufnahme in der Landwirtschaft geschaffen werden.“ Derzeit werde illegale Migration toleriert, viele Migranten steckten „rechtelos“ in ausbeuterischen Verhältnissen. „Das ist zynisch und muss beendet werden.“
Um die Situation zu entspannen, müssten vor allem die Abreisestaaten besser unterstützt werden – im Falle Libyens etwa durch „Aufbau staatlicher Strukturen“. Entsprechende Signale erwarte er von der Libyen-Konferenz, die Ende des Monats auf Einladung der Bundesregierung in Berlin stattfinden soll. Keine neuen Debatten über Umverteilung in der heißen Phase des Wahlkampfs – das scheint die Linie der Regierungsparteien zu sein.
Grüne und FDP haben andere Vorstellungen
Es ist allerdings nicht die Linie der Grünen, die bekanntlich das Kanzleramt erobern wollen. Und auch nicht die Linie der FDP, die sich als möglicher Koalitionspartner etwa der Union bereit macht.
Aus beiden Oppositionsparteien heißt es, dass es sehr wohl eines neuen Verteilmechanismus bedürfe – als vorübergehende Lösung, bis sich die EU auf ein neues Asylsystem einigen könne. „Als Übergangslösung sollte sich Deutschland unbedingt an einer Neuauflage des Malta-Mechanismus beteiligen und analog zu seiner Bevölkerungsstärke ein Viertel der aus Seenot Geretteten aufnehmen“, sagte die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Luise Amtsberg, WELT. In Deutschland stünden zahlreiche Städte für eine zusätzliche Aufnahme bereit. Die Bundesregierung müsse sich außerdem „vehement dafür einsetzen, dass die festgesetzten Seenotrettungsschiffe wieder zu ihren Einsätzen auslaufen dürfen“.
FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae fordert: „Um die Mittelmeerstaaten im Sommer zu entlasten, sollte sich die Bundesregierung mit zehn, elf weiteren europäischen Staaten zusammentun, die bereit sind, die Migranten einem geordneten Asylverfahren zuzuführen.“ Die Zahl der Ankommenden sei „nicht so immens hoch“, dass die Situation nicht beherrschbar wäre.
Zweitens müsse die EU allerdings mit den Ländern um Europa herum verhandeln, „ob schon vor den Pforten der Europäischen Union geklärt werden kann, wer Anspruch auf Schutz hat oder nicht“. Den Herkunftsländern müsse zudem klargemacht werden, „dass auch sie eine Verpflichtung haben, ihre Landsleute zurückzunehmen“.
Die Forderungen existieren seit Längerem, doch umgesetzt wurden sie bislang nicht. Das liegt auch daran, dass die 27 EU-Staaten nicht in der Lage sind, sich zu einigen. Migrationsexperte Knaus fordert deswegen ein Vorangehen derjenigen Staaten, die ein ähnliches Interesse haben: deutliche Reduzierung der illegalen Migration, teilweise Ausweitung der legalen Migration.
„Zahlen reduzieren wir human nur mit Partnern“, sagt Knaus. „Wir müssen Ländern wie Tunesien etwas Attraktives anbieten.“ Das könnten Visa für Arbeitskräfte oder Studenten sein. Im Gegenzug könne das Land versprechen, „alle Geretteten, die keinen Flüchtlingsschutz erhalten, ab einem Stichtag zurückzunehmen“.
Zu welcher Linie die Bundesregierung kommt, ist noch offen. Das Bundesinnenministerium erklärte auf Anfrage, noch etwas Zeit für eine Stellungnahme zu benötigen. In der kommenden Woche tagt der Rat der EU-Innenminister.