Der türkische Präsident Erdogan erklärt zehn Botschafter zu unerwünschten Personen und provoziert eine neue Krise mit dem Westen

24.10.2021
Lesedauer: 5 Minuten

Hintergrund ist die Forderung nach der Freilassung eines inhaftierten Philanthropen. Mitten in der Wirtschaftskrise tritt er damit einen neuen Streit mit seinen wichtigsten Partnern los.

Nach Monaten der Wiederannäherung an den Westen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan unvermittelt eine neue Krise ausgelöst. In scharfen Worten kündigte er am Samstag an, die Botschafter der USA, Deutschlands, Frankreichs und sieben weiterer westlicher Länder ausweisen zu lassen. Erdogan reagierte damit auf die Kritik der Botschafter an der fortdauernden Inhaftierung des türkischen Philanthropen Osman Kavala. Noch ist unklar, ob die Diplomaten tatsächlich ausgewiesen werden. Allein mit der Drohung brüskiert die Türkei aber einige ihrer wichtigsten Partner.

Erdogan sagte bei einem Auftritt in Eskisehir, er habe dem Aussenministerium den Befehl gegeben, die zehn Botschafter zu unerwünschten Personen zu erklären. In der Regel folgt auf die Einstufung als Persona non grata die Ausweisung durch das Gastland oder die Abberufung durch den Entsendestaat. Betroffen sind auch die Gesandten von Kanada, Neuseeland, den Niederlanden und den vier skandinavischen Staaten Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden. Selbst für türkische Verhältnisse ist das Vorgehen ungewöhnlich scharf.

Während deutsche Politiker verschiedener Parteien empört reagierten, äusserten sich die Regierungen der betroffenen Länder zunächst zurückhaltend. Mehrere Staaten erklärten, bisher nicht offiziell informiert worden zu sein, dass ihr Botschafter eine unerwünschte Person sei. Man bemühe sich in Ankara um Klärung, erklärte das State Department in Washington. Das Auswärtige Amt in Berlin liess verlauten, es liefen intensive Konsultationen mit den neun anderen Ländern.

Beispiellose diplomatische Eskalation

Westliche Botschafter in Ankara haben sich in den vergangenen Jahren daran gewöhnt, aus Protest gegen Entscheidungen ihrer Heimatstaaten in das Aussenministerium zitiert zu werden. Allein der deutsche Botschafter Martin Erdmann wurde 25 Mal während seiner Amtszeit von 2016 bis 2019 einbestellt. Das deutsch-türkische Verhältnis war damals durch die Festnahme deutscher Staatsbürger, die Verfolgung der Opposition in der Türkei und den Streit um türkische Wahlkampfauftritte in Deutschland stark belastet.

Die Ausweisung von zehn Botschaftern wäre aber eine drastische, bisher beispiellose Eskalation. Der Grund für den ungewöhnlichen Schritt Erdogans ist eine Erklärung der Botschafter am vergangenen Montag, in der sie von der Türkei die Freilassung von Osman Kavala gefordert hatten. Zuvor hatte bereits der Europarat seinem Mitglied eine Frist bis Ende November gesetzt, um den seit Oktober 2017 ohne Urteil inhaftierten Unternehmer und Kulturmäzen freizulassen.

Erdogan verurteilte die Erklärung der Botschafter als unzulässige Einmischung in das türkische Justizsystem. Wie der Europarat beriefen sich auch die Botschafter auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der im Dezember 2019 das Verfahren gegen Kavala für illegitim erklärt hatte. Eigentlich ist die Türkei zur Befolgung des Urteils verpflichtet. Wie in anderen politisch heiklen Fällen ignoriert sie jedoch die Entscheidung des Gerichts.

Das Verfahren gegen Kavala gibt Rätsel auf

Die Justiz hatte Kavala zunächst vorgeworfen, durch die Unterstützung der Gezi-Proteste 2013 versucht zu haben, die Regierung zu stürzen. Von der türkischen Opposition und dem Westen wurde das Verfahren als politisch motiviert eingestuft und als Farce kritisiert. Im Februar 2020 wurde Kavala mit anderen Aktivisten in dem Prozess überraschend freigesprochen. Noch am selben Tag erliess die Staatsanwaltschaft aber einen neuen Haftbefehl. Diesmal wurde Kavala eine Verwicklung in den Putschversuch von Juli 2016 vorgeworfen.

Im Westen ist der Kulturförderer Osman Kavala hoch angesehen. Erdogan beschuldigt ihn aber, die Regierung stürzen zu wollen.
Im Westen ist der Kulturförderer Osman Kavala hoch angesehen. Erdogan beschuldigt ihn aber, die Regierung stürzen zu wollen.Imago

Die Unerbittlichkeit, mit der Erdogan gegen Kavala vorgeht, gibt seit langem Rätsel auf. Der 64-Jährige setzt sich mit seiner Stiftung Anadolu Kültür für die Verständigung der Volksgruppen in der Türkei und die Aussöhnung mit der armenischen Minderheit ein. Dieses Engagement missfällt Erdogan und seinen nationalistischen Verbündeten. Anders als der ebenfalls seit Jahren inhaftierte Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas stellt Kavala aber keine politische Gefahr für Erdogan dar.

Erdogan macht Schluss mit der Harmonie

Umso erklärungsbedürftiger ist es, warum Erdogan wegen Kavala nun einen Bruch mit dem Westen riskiert. Angesichts der tiefen Währungs- und Wirtschaftskrise in der Türkei ist Ankara mehr denn je auf ein gutes Verhältnis zu seinen wichtigen Handelspartnern in Europa angewiesen. In letzter Zeit schien Erdogan auch um Entspannung bemüht. Beim Abschiedsbesuch von Kanzlerin Angela Merkel in Istanbul am 16. Oktober wirkten beide Seiten um Harmonie bemüht.

Auch im Erdgasstreit mit Griechenland setzt die Türkei wieder auf Dialog, nachdem es im Sommer 2020 fast zu einer militärischen Konfrontation im Mittelmeer gekommen war. Seit der Eskalation an der Grenze zu Griechenland im Frühjahr 2020 hat Ankara es auch unterlassen, die Flüchtlinge als Druckmittel gegen Europa einzusetzen. Dafür hat sich die EU bereit erklärt, der Türkei weitere Milliarden für die Versorgung der 3,7 Millionen Syrer im Land zu zahlen.

Womöglich sucht Erdogan mit dem Eklat nun von der Wirtschaftsmisere abzulenken. Diesen Vorwurf machte ihm auf jeden Fall der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. Es wäre nicht das erste Mal, dass Erdogan einen Konflikt mit dem Ausland nutzt, um innenpolitische Probleme zu überdecken. Sein Rückhalt bei den Wählern ist auf einem Allzeittief, auch wirkte Erdogan in letzter Zeit gesundheitlich angeschlagen. Zumindest kurzfristig könnte ihm da ein Konflikt mit dem Westen helfen, seine nationalistische Basis zu mobilisieren.

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