Lange Zeit galten sie als die Musterschüler der Pandemie: Australien und Neuseeland hatten das Coronavirus besser im Griff als der Rest der Welt. Doch ein Ausbruch der Delta-Variante lässt nun beide Länder ihre No-Covid-Strategie überdenken. Auch Europa kann daraus lernen.118
Die No-Covid-Strategie in Australien und Neuseeland hat viele Menschenleben gerettet. Während andernorts Hunderttausende erkrankten und viele starben, weist die australische Bilanz insgesamt knapp 45.000 Covid-Infektionen und unter 1000 Tote aus. Der Nachbar Neuseeland steht mit rund 3100 Fällen und 26 Toten seit Ausbruch der Pandemie sogar noch besser da.
Über Monate konnten Australier wie Neuseeländer zudem ein recht normales Leben führen. Doch dann kam die Delta-Variante. Ein Chauffeur in Sydney steckte sich bei einer Flugzeugcrew an, ein Reisender aus Sydney brachte das Virus schließlich trotz Quarantäne nach Neuseeland.
In der Folge riefen große Teile der australischen Ostküste Lockdowns aus. Doch vor allem in Sydney – das seit acht Wochen strenge Restriktionen beibehält – steigen die Zahlen trotzdem weiter. Derzeit registriert die Metropole Hunderte neue Fälle pro Tag. Und selbst im nur knapp fünf Millionen Einwohner großen Neuseeland, das vergangene Woche bereits nach lediglich einer bekannt gewordenen Infektion umgehend in einen strengen Lockdown ging, summieren sich die Fälle inzwischen auf über 100.

Schuld daran sei die Delta-Variante, die „mit nichts vergleichbar ist, was wir bisher erlebt haben“, sagte der neuseeländische Minister Chris Hipkins, der für das Coronamanagement seines Landes maßgeblich verantwortlich ist, in einem Interview. Noch will das Land seine No-Covid-Strategie zwar nicht aufgeben, wie auch Premierministerin Jacinda Ardern betont.
Allerdings haben inzwischen auch hohe Beamte Zweifel an den künftigen Erfolgsaussichten des Konzepts. Die Lage werfe „große Fragen zur langfristigen Zukunft unserer Pläne“ auf, wie Minister Hipkins sagte. Die bisherigen Maßnahmen erschienen als Reaktion auf die Delta-Variante „weniger angemessen“ und „weniger robust“, vor allem da das Land seine Grenzen ja auch irgendwann wieder öffnen wolle. Eine Erkenntnis, die mittelfristig auch in Europa eine wichtige Rolle spielen dürfte. Neuseeland hat nun – wie Australien – einen Plan vorgelegt, der eine schrittweise Öffnung der Grenzen vorsieht, vermutlich für das kommende Jahr.
Auch Australien nimmt derzeit Schritt für Schritt Abstand von seiner No-Covid-Strategie. So sagte Gladys Berejiklian, die Ministerpräsidentin des Bundesstaats New South Wales, in dem Sydney liegt, dass null Covid-Fälle auf Dauer „völlig unrealistisch“ seien. „Selbst ein Staat, der lange Zeit keine Fälle hatte, wird irgendwann seine Grenzen öffnen müssen“, erklärte sie im Interview mit dem australischen Sender ABC. Sobald das passiere, werde es auch Infektionen geben.
Obwohl in ihrem Staat derzeit rund 800 Fälle pro Tag registriert werden, versprach Berejiklian, die Restriktionen lockern zu wollen, sobald sechs Millionen Impfdosen in New South Wales verimpft seien. Und das ging zuletzt überraschend schnell.
Nachdem die Impfkampagne in Australien zunächst schleppend begonnen hatte, wird inzwischen im Akkord geimpft: Am Dienstag knackten die acht Millionen Einwohner des Bundesstaats die gewünschte Marke – eine Woche früher als erwartet. In den kommenden Tagen will Berejiklian dann tatsächlich bekannt geben, wie sich das Leben für geimpfte Bürger ab September verbessern soll.
Auch in Neuseeland wird die Impfung inzwischen stärker priorisiert – wobei das Land wie auch Australien anderen Staaten noch deutlich hinterherhinkt. Nur knapp 20 Prozent der Neuseeländer sind bisher vollständig geimpft. In Australien sind es etwas über 24 Prozent.

In Neuseeland befürworten derzeit noch große Teile der Bevölkerung den geltenden Lockdown, doch in Australien, wo die Restriktionen bereits deutlich länger anhalten, wächst der Unmut der Bevölkerung. Erst am Wochenende kam es bei Protesten in Sydney, Melbourne und Brisbane zu teilweise schweren Zusammenstößen mit der Polizei. In Melbourne wurden über 200 Menschen festgenommen, die gegen die Corona-Beschränkungen demonstriert hatten.
Am Sonntag schrieb Australiens Premierminister Scott Morrison in einem Meinungsstück beim Nachrichtenportal News.com.au, dass er den „schweren Tribut“ anerkenne, den die strengen Präventionsmaßnahmen australischen Bürgern und Unternehmen abforderten.

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