Geht es nach der CDU, sollen Bürgergeld-Empfänger schneller wieder arbeiten müssen. Ökonom Ronnie Schöb findet das richtig. Der Staat dürfe mehr von Bürgern verlangen.
Ronnie Schöb ist Professor für Finanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
ZEIT ONLINE: Der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann fordert im Streit ums Bürgergeld, dass jeder, der arbeiten kann und Sozialleistungen bezieht, spätestens nach einem halben Jahr einen Job annehmen oder gemeinnützig tätig sein soll. Ist das einfach nur populistisch oder ist da was dran?
Ronnie Schöb: Es ist populistisch – und doch ist es nicht ganz falsch. Solche pauschalen Regelungen, wie hier die Frist von einem halben Jahr, sind nicht sinnvoll. Aber im Kern liegt Linnemann richtig. Es geht sowohl ums Fördern als auch ums Fordern. Der Staat sollte sich schon fragen: Wieso nehmen Leute Jobs nicht an? Und wie bringen wir sie dazu? Der CDU-Generalsekretär fordert allerdings eine generelle Bestrafung. Stattdessen braucht es eine Beweisumkehr. Erst mal glaubt der Staat, jeder bemühe sich, Arbeit zu finden. Ist das nicht der Fall, sollte er reagieren.
ZEIT ONLINE: Sie plädieren also dafür, den Einzelfall zu betrachten?
Schöb: Genau. Nehmen wir eine Region, in der die Arbeitslosenrate sehr niedrig ist. Wenn dort jemand alle Angebote ablehnt, kann das Jobcenter sagen: Wir bieten dir jetzt eine gemeinnützige Arbeit an. Lehnst du auch die ab, bist du offensichtlich nicht bedürftig, benötigst also kein Bürgergeld. Wenn aber klar ist, dass sich jemand bemüht und nichts findet, weil die Arbeitsmarktbedingungen sehr schlecht sind, ist eine solche Strafe kontraproduktiv. Genauso wenig sind solche Regelungen bei Menschen sinnvoll, die gar nicht in der Lage sind, einem geregelten Arbeitsleben nachzugehen. Die beispielsweise Suchtprobleme haben oder schwer psychisch krank sind.
Ronnie Schöb forscht und lehrt an der FU Berlin unter anderem zur Arbeitsmarktpolitik und zur Reform des Sozialstaates.
ZEIT ONLINE: Der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil betont, dass Leistungen bis zu 30 Prozent gekürzt werden können, wenn die Empfänger sich nicht um Arbeit bemühen.
Schöb: Wenn Heil nur auf diese 30 Prozent hinweist, muss ich ihm sagen: Das stimmt so nicht. Im Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 steht auch, dass der Staat jemandem, der nicht arbeiten will, die Unterstützung auch weiterhin komplett entziehen kann. Das geht in der Debatte völlig unter. In dem Urteil heißt es: Wenn jemand eine ihm zumutbare Arbeit – und das Gericht legt ausführlich dar, was zumutbar heißt – nicht annimmt, darf man davon ausgehen, dass derjenige nicht bedürftig ist. Und: Wer nicht bedürftig ist, hat keinen Anspruch auf Bürgergeld.
ZEIT ONLINE: Sie sprachen eingangs vom Fördern und Fordern. Das war das Leitmotiv von Hartz IV. Warum ist das Fordern mit der Zeit weniger wichtig geworden?
Schöb: Ich finde das selbst erstaunlich, denn bei Hartz IV hat es extrem gut funktioniert. Die Zahl der ALG-2-Empfängerinnen und -Empfänger ist nach der Einführung drastisch gesunken. Doch je weiter die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist, desto wichtiger sind statt des Forderns das Alimentieren und das Fördern geworden. Dabei nimmt ein Staat seine Bürgerinnen und Bürger viel ernster, wenn er ihnen Eigenverantwortung zubilligt. Grundsicherung sollte in erster Linie Hilfe zur Selbsthilfe sein. Das ist in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten und es ist gut, wenn der Bundesarbeitsminister jetzt wieder verstärkt darauf hinweist.
„Grundsicherung sollte in erster Linie Hilfe zur Selbsthilfe sein.“
Ökonom Ronnie Schöb
ZEIT ONLINE: Arbeiten lohne sich nicht mehr, sagen jetzt manche. Unternehmer aus Niedriglohnbranchen berichten von Kündigungen, weil ihre Mitarbeitenden lieber Bürgergeld kassieren wollten, statt zu schuften. Offizielle Zahlen zum Beispiel von der Agentur für Arbeit bestätigen diese Eindrücke bislang nicht.
Schöb: Der Staat weiß nicht, warum jemand Bürgergeld bekommt – genauso wenig, warum jemand kündigt. Wenn Arbeitgeber also von solchen Erfahrungen berichten, sollte die Politik das schon ernst nehmen. Trotzdem glaube ich, dass Kündigungen wegen des Bürgergelds eher Ausnahmen sind. Das eigentliche Problem ist, dass es zu wenige Anreize gibt, wieder aus dem Bürgergeld rauszukommen, wenn man es erst einmal bezieht.
ZEIT ONLINE: Sie sind Teil des Wissenschaftlichen Beirats des Finanzministeriums. Und der attestiert dem deutschen Steuer- und Sozialsystem durchaus problematische Anreize, um auf Arbeit beziehungsweise auf Mehrarbeit zu verzichten. Was muss sich ändern?
Schöb: Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger brauchen bessere Möglichkeiten, um aufzustocken. Bei Verdiensten ab mehr als 1.000 Euro im Monat rechnet man 90 Prozent davon aufs Bürgergeld an. Das heißt: Die Leute bekommen mit dem Job nur zehn Prozent mehr Geld als ohne ihn. Ab 1.200 beziehungsweise 1.500 Euro rechnet man dann sogar 100 Prozent an. Wer mehr arbeitet, hat also überhaupt nichts davon. Und das ist nicht nur beim Bürgergeld so, das betrifft genauso Leute, die Wohngeld und den Kinderzuschlag beziehen. Beim Kinderzuschlag gibt es sogar Fälle, in denen Leute draufzahlen müssen, wenn sie arbeiten. Das passiert, weil vom Bruttoeinkommen die Sozialversicherungsbeiträge, die Lohnsteuer und die Abschmelzbeträge beim Wohngeld und Kinderzuschlag, die nach komplizierten Regeln berechnet werden, abgehen. Dabei kann es passieren, dass unterm Strich sogar mehr als 100 Prozent abgezogen wird. Da kann man Betroffenen doch nur raten, weniger Stunden zu machen.
ZEIT ONLINE: Wie kann die Politik hier konkret ansetzen?
Schöb: Sie sollte die Hinzuverdienstmöglichkeiten vor allem bei sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung verbessern. Momentan gilt: Je mehr man arbeitet, desto weniger lohnt sich Mehrarbeit. Das ließe sich umkehren, indem man die Minijobs unattraktiv macht und die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung entsprechend stärker fördert. Wer Bürgergeld bekommt, sollte bei sozialversicherungspflichtiger Arbeit immer beispielsweise 30 Prozent des zusätzlichen Einkommens behalten dürfen, statt der null bis zehn Prozent wie in den eben genannten Beispielen.
„Ich finde es schlimm, wie Bürgergeldempfänger durch die Art der Debatte stigmatisiert werden.“
Ökonom Ronnie Schöb
ZEIT ONLINE: Die Kosten für das Bürgergeld sind in diesem Jahr um 3,25 Milliarden Euro höher als gedacht. Für Kritikerinnen und Kritiker ist das ein weiteres Argument, es zu reformieren oder gar abzuschaffen.
Schöb: Der Staat kann momentan gar nicht anders, als das Bürgergeld zu erhöhen. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt: Wenn die Inflation hoch ist, muss er höhere Regelbedarfe zahlen – und darüber auch kurzfristig entscheiden. Wir haben aktuell den Fall, dass die Regelsätze für Sozialleistungen schnell angehoben werden, während die Löhne nur sehr langsam anziehen. Das ist der Kern des Unmuts. In Zukunft werden sich die Erhöhungen von Regelbedarfen und Löhnen wieder angleichen.
ZEIT ONLINE: In der Debatte entrüsten sich auch sehr privilegierte Menschen über Geringverdienerinnen und Empfänger staatlicher Unterstützung. Warum fasst das Thema die Leute so an?
Schöb: Die Haltung vieler ist: Wir unterstützen euch – aber ihr müsst auch etwas tun und dürft unsere Solidarität nicht ausnutzen. Das betrifft nicht nur Privilegierte, sondern gerade auch diejenigen, die knapp mehr verdienen, als eine Bürgergeldempfängerin bekommt. Sie fragen sich: Warum arbeite ich 40 Stunden die Woche und habe am Schluss gerade einmal 300 Euro mehr als jemand, der zu Hause bleibt? Sich diese Frage zu stellen, ist legitim. Dennoch finde ich es schlimm, wie Bürgergeldempfänger durch die Art der Debatte stigmatisiert werden. Die Grundsicherung ist eine Art Versicherung gegen Lebensrisiken, gegen die man sich anderweitig nicht versichern kann. Wenn sie an die Richtigen geht, werden auch großzügige Leistungen in der Gesellschaft deutlich akzeptierter sein. Und diese Akzeptanz ist letztlich die Voraussetzung für einen starken Sozialstaat.
ZEIT ONLINE: Was auch polarisiert: 62 Prozent der Empfängerinnen und Empfänger des Bürgergelds haben eine Migrationsgeschichte. Ist das Bürgergeld ein Anreiz für Migration?
Schöb: Ich wäre äußert vorsichtig, so etwas zu behaupten wie: Ausländische Menschen nutzen hier unser Sozialsystem aus. Seit dem Jahr 2005 ist die Zahl der ALG-2-Empfängerinnen und -empfänger deutlich runtergegangen, das gilt auch für Menschen aus anderen EU-Staaten. Die Zahl erzählt vielmehr eine andere Erfolgsgeschichte, sie zeigt, wie gut das System der Grundsicherung funktioniert. Es hat nicht nur Langzeitarbeitslose aufgefangen, sondern es war auch in der Lage, schnell auf völlig unerwartete Entwicklungen zu reagieren. Auf die Zuwanderung im Jahr 2015, später auf die Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine. Zudem ist zu bedenken: Leute mit nicht deutscher Herkunft fallen häufiger unter die Bürgergeldempfänger. Nicht, weil sie aus dem Ausland stammen, sondern weil unter ihnen vergleichsweise viele Menschen sind, die es auf dem Arbeitsmarkt schwerer haben als andere.