Wie wird Deutschland unabhängig von russischem Öl und Gas? SPD-Energie-Politikerin Nina Scheer bringt eine Idee ins Spiel, die 1973 unter Kanzler Brandt realisiert wurde. Für die Grünen steht fest: Die Bürger können durch ihr Verhalten viel tun, um „Putins Kriegskasse“ auszutrocknen.
Wie reagiert Deutschland auf die russische Drohung, Gaslieferungen durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 einzustellen? Russlands Vizeregierungschef Alexander Nowak brachte im Staatsfernsehen am Montagabend eine solche „spiegelgerechte“ Entscheidung als Reaktion auf den Stopp der Pipeline Nord Stream 2 ins Spiel. Er betonte aber zugleich, dass man diese „noch“ nicht getroffen habe. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) geht nicht davon aus, dass Moskau ernst macht. Was sagt der Bundestag?
Nina Scheer, Sprecherin der SPD-Fraktion für Energiepolitik und Klimaschutz, sagt WELT, Russlands Drohung sei eine „Machtdemonstration und kennzeichnet die Gefahr von einseitigen Ressourcen-Abhängigkeiten, die wir überwinden müssen“. Mit Blick auf den von Habeck angekündigten Aufbau einer Gasreserve sagte Scheer: „Richtigerweise wurde in den letzten Wochen für volle Speicher gesorgt.“
Auch ohne Umsetzung von Russlands Drohung müsse der Umstieg auf erneuerbare Energien beschleunigt werden. Nur diese garantierten eine bezahlbare und sichere Versorgung. Mit Rationierungen zulasten der Industrie rechnet sie nicht – zuvor wären „weniger einschneidende Maßnahmen“ auszuschöpfen.
Scheer hält es für sinnvoll, wenn die Bürger nun aktiv Energie einsparen: „Jede Einsparung senkt die Nachfrage und entlastet damit auch die Märkte.“
Mit Blick auf Deutschlands Abhängigkeit von russischem Erdöl bringt die Sozialdemokratin ein Konzept ins Spiel, das erstmals während der Öl-Krise 1973 von der sozialliberalen Koalition von Kanzler Willy Brandt (SPD) umgesetzt worden war: „Autofreie Sonntage haben uns in der Vergangenheit nicht geschadet und könnten auch in der heutigen Zeit einen Beitrag leisten, wenn eine entsprechende Verknappung dies erfordert“, so Scheer. Die Regierung Brandt hatte damals vier autofreie Sonntage beschlossen; der erste solche Tag, an dem die Deutschen Benzin sparen sollten, war der 25. November 1973.
Abgesehen von diesem Vorschlag sagte Scheer: Auch ansonsten sei „die Palette an Einsparmöglichkeiten“ groß und „sollte auch noch stärker durch Programme und Kommunikation begleitet werden, um die verhältnismäßig einfach zu realisierenden Optionen auszuschöpfen“.
Ingrid Nestle, Sprecherin für Klimaschutz und Energie der Grünen-Fraktion, sagt mit Blick auf Russlands Nord-Stream-1-Drohung: „Dieser Fall zeigt, warum das längst beschlossene Ende der Nutzung fossiler Energien bis spätestens 2045 auch für die Versorgungssicherheit ein deutlicher Gewinn ist.“ Für sie steht fest: „Kurzfristig liegen relativ große Potenziale für mehr Unabhängigkeit von russischem Gas in der Suche nach anderen Lieferanten und im Verhalten der Menschen. Denn Investitionen brauchen Zeit, weniger Energie verbrauchen können wir alle sofort.“
Nestle sagt, es gehe nun auch darum, „die Menschen zu achtsamem Umgang mit Energie zu befähigen. Wer weiß schon, dass eine leichte Absenkung der Raumtemperatur oder Wäsche auf der Leine statt im Trockner viel mehr spart, als das Licht auszuknipsen? So wie zu Beginn von Corona müssen die Basisinformationen breit zu den Menschen transportiert werden. Dann können alle, die wollen, zusätzlich einen eigenen Beitrag leisten, dass weniger Geld in Putins Kriegskasse fließt.“
Rationierungen zulasten der Industrie befürchtet die Grünen-Politikerin aktuell nicht: „Kurzfristig haben wir kein Versorgungsproblem. Der heikle Zeitraum wird der nächste Winter. Entsprechend rechne ich nicht mit kurzfristigen Rationierungen. Aber definitiv müssen wir im Sommer anfangen, Gas für den Winter einzuspeichern. Und die Zeit der Heizpilze sollte endgültig vorbei sein.“
Auch die dritte Ampel-Fraktion, die FDP, vertritt die Ansicht, dass ein „möglichst sparsamer Umgang mit Energie natürlich immer sinnvoll“ sei, wie Fraktionsvize Lukas Köhler sagt. Für ihn zeigt Russlands Drohung bezüglich Nord Stream 1, „dass die Wirtschaftssanktionen ihre Wirkung entfalten. Putin irrt jedoch, wenn er glaubt, uns auf diese Weise unter Druck setzen zu können.“
Union moniert „weitere Explosion der Energiepreise“
Und die Opposition? Andreas Jung, CDU-Bundesvize und energiepolitischer Sprecher der Union im Bundestag, fordert eine schnelle Reaktion der Bundesregierung. „Es muss kurzfristig alles unternommen werden, um unseren Bedarf an Gas, Steinkohle und Erdgas auch vollständig ohne russische Importe zu sichern. Das gilt unabhängig von der Frage eines international abgestimmten Embargos einerseits und der russischen Drohung eines Lieferstopps andererseits“, sagt Jung WELT. „Wir müssen unmittelbar für ein solches Szenario umfassend Vorsorge für Energiesicherheit treffen.“
Jung fordert konkret, dass Deutschland in Abstimmung mit Energieunternehmen hierzulande und der EU alles unternehmen müsse, „um die notwendigen Gaskapazitäten durch zusätzliche Lieferungen aus anderen Ländern zu sichern, auch mit Flüssiggas. Wir unterstützen zudem die vorgesehene Verpflichtung, alle Gasspeicher in Deutschland für die nächste Heizperiode gut zu füllen. Auch bei Erdöl und Steinkohle muss vorgesorgt werden. Alle diese Anstrengungen müssen sich darauf richten, Rationierungen auch im nächsten Winter unbedingt zu vermeiden.“
Der Christdemokrat moniert, dass Bürger und Betriebe von „exorbitant gestiegenen Kosten betroffen“ seien. „Diese Entwicklung dauert schon über Monate an, infolge des Ukraine-Kriegs ist jetzt eine weitere Explosion der Energiepreise in vollem Gang.“
Die Entlastungspläne der Ampel-Koalition gingen nicht weit genug. „Die Mehrwertsteuer auf Strom, Gas und Fernwärme muss gesenkt und die Stromsteuer drastisch reduziert werden. Bei einem verbesserten Heizkostenzuschuss müssen die Einkommensgrenzen weiter gefasst werden.“ Jung betont: Auch Menschen, die kein Wohngeld erhalten, weil sie mit ihrer Arbeit dafür zu viel verdienen, seien von hohen Preisen „hart betroffen“.
So positionieren sich AfD und Linke
Der wirtschaftspolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Leif-Erik Holm, hält einen Stopp der russischen Gaslieferungen für unwahrscheinlich: „Schließlich brauchen die Russen die Devisen-Einnahmen dringend.“ Er gibt allerdings zu bedenken: Träte ein solcher Stopp in Kraft, könnte schon im nächsten Winter „eine ganze Reihe von Industriebetrieben nicht mehr versorgt werden“.
Holm fordert, Europa müsse sich für „einen Extremfall“ wappnen. Hierzu sollten „die europäischen Gaslieferanten ihre Förderkapazitäten ausbauen, Verträge mit nordafrikanischen Lieferanten abgeschlossen werden, und vor allem wäre ein massiver Import von LNG (liquefied natural gas, Flüssig-Erdgas, d. Red.) notwendig. Das könnte die Gaslücke verringern, wenn auch nicht ganz schließen.“
Zudem solle sich Deutschland Gedanken über die Erschließung eigener Gasvorkommen machen: „Neben aktuell förderbaren 41 Milliarden Kubikmetern Erdgasreserven wären mittelfristig weitere 450 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Kohleflözen und bis zu 2,3 Billionen Kubikmeter aus Schiefergesteinen nutzbar, um mehr Energie-Unabhängigkeit zu erreichen.“
Einen Umstieg aufs Heizen mit elektrisch betriebenen Wärmepumpen ist für den AfD-Politiker „keine ernsthafte Lösung“, da sowohl die Ampel-Koalition als auch deren Vorgänger-Regierungen immer mehr Grundlastkapazitäten in der Stromversorgung abgebaut hätten. „Jetzt rächt sich der völlig blauäugige Ausstieg aus Kernkraft und Kohle.“
Holm erneuert die Forderung seiner Partei nach einem Comeback der Atomenergie: „So sieht es die Energieagentur IEA, und so sehen es unsere Nachbarländer. Deutschland muss schnellstens umsteuern und die Restlaufzeiten der letzten drei Kernkraftwerke verlängern.“ Zudem sollten die drei zum Jahreswechsel vom Netz gegangenen Atomkraftwerke wieder „nutzbar gemacht“ werden.
Andere Töne schlägt Linke-Politiker Klaus Ernst, Vorsitzender des Ausschusses für Klimaschutz und Energie im Bundestag, an: „Die Drohung Russlands, keine Energie mehr zu liefern, ist im Zusammenhang mit der selbstzerstörerischen Debatte in Deutschland und Europa zu sehen, keine russische Energie mehr abzunehmen.“ Er denke aber, dass „die Vernunft auf beiden Seiten größer ist als der Reflex, den Konflikt weiter zu eskalieren“.
Ernst warnt: „Ein Importverbot russischer Energie oder Lieferstopp durch Russland würde nicht nur zu einer weiteren Explosion der Preise führen, sondern die Energiesicherheit in Deutschland mittelfristig vor kaum überwindbare Probleme stellen.“ Dies könnte private Verbraucher wie die Industrie treffen. „Unternehmenszusammenbrüche und zunehmende Arbeitslosigkeit wären sehr wahrscheinlich.“