Annalena Baerbock ist auf Dienstreise in Madrid, wo sie endlich das Thema feministische Außenpolitik großmachen wollte. Und doch gibt es nur ein Thema: die Ukraine.
Auf den ersten Blick wirkt die Reise der Außenministerin wie eine kleine Flucht. Wolkenlos leuchtet an diesem Dienstagmorgen der Himmel über Madrid, die Luft ist warm und schmeckt nach Frühling. Weit entfernt, scheinbar in einer anderen Welt, wüten die Kriege und Krisen unserer Zeit.
Annalena Baerbock wollte in der spanischen Hauptstadt ausnahmsweise einmal über andere Dinge sprechen als über den drohenden Krieg im Osten Europas, der sie seit ihrem Amtsantritt im Dezember jeden Tag und fast jede Stunde beschäftigt. Bei ihrem Antrittsbesuch in Spanien sollte es um feministische Außenpolitik gehen und um Klimaschutz, zwei Themen, die der Außenministerin am Herzen liegen. Doch dann wurde das Klima aus dem Programm gestrichen, die feministische Außenpolitik zusammengekürzt auf einen einzigen, schnellen Termin. Fünf Stunden bleiben der Ministerin nun noch für ihren Besuch in Spanien, dann muss sie zurück nach Berlin; die Krise wartet.
Wie soll Baerbock eigene Themen setzen?
Denn am selben Morgen ist der Bundeskanzler zu seiner bislang wichtigsten und dramatischsten Reise aufgebrochen, zu Wladimir Putin nach Moskau. Im Vorfeld wurde geraunt, Olaf Scholz könnte womöglich der letzte westliche Regierungschef sein, der den russischen Präsidenten persönlich trifft und ihm seine Kriegslust ausreden kann, bevor es zu spät ist. Falls es nicht schon zu spät ist.
Im Laufe des Tages treffen leise hoffnungsvolle Nachrichten aus Moskau ein. Putin wünsche sich, dass Nord Stream 2 in Betrieb genommen werde, heißt es; er wolle weiterverhandeln. Dennoch bleibt in Madrid die Frage: Wie soll Baerbock eigene Themen setzen, wenn die Welt auf Scholz und Putin starrt? Immerhin, die Reise selbst ist eine symbolische Geste für den Klimaschutz: Die Ministerin fliegt nicht, wie es üblich ist, mit der Flugbereitschaft der Bundeswehr, sondern mit Linienflügen der spanischen Airline Iberia. Wann immer es möglich sei, wolle sie Linienflüge nutzen, das hatte sie versprochen – dem Klima zuliebe.
Aber natürlich ist die Kriegsgefahr im Osten Europas auch auf dem westlichen Zipfel des Kontinents allgegenwärtig; auch die mitreisenden Journalisten haben kein anderes Thema. Dennoch fährt Baerbock nach der Landung zum prachtvollen Sitz der spanischen Generalstaatsanwaltschaft. Es ist der eine Termin, der neben dem Treffen mit dem spanischen Außenminister José Manuel Albares von ihrem ursprünglichen Programm übriggeblieben ist: ein Gespräch über Gewalt gegen Frauen.
Ein kleines Zeichen für Frauenrechte
In Spanien gibt es seit 2005 eine sogenannte Schwerpunktstaatsanwaltschaft, die sich gezielt für die Rechte und den Schutz von Frauen einsetzt und in allen 50 Provinzen des Landes vertreten ist. Außerdem hat die Regierung im vergangenen Jahr erstmals einen Leitfaden für eine feministische Außenpolitik verfasst. Baerbock schwebt etwas Ähnliches vor – nur musste der Plan im Koalitionsvertrag in einen fremdsprachigen Tarnanzug gesteckt werden, um die Koalitionspartner nicht zu verschrecken: „Feminist foreign policy“ heißt es da, weil Feminismus auf Englisch halt irgendwie cooler klingt.
Baerbock trifft nun also die Staatsanwältin dieser Kammer für Gewalt gegen Frauen, Teresa Peramato Martín, und lässt sich erklären, was Spanien beim Schutz und bei der Gleichstellung der weiblichen Bevölkerung besser macht als Deutschland. Sie hört, dass hier im Verhältnis zur Bevölkerung weniger Frauen durch geschlechtsbezogene Gewalt ihr Leben verlieren als in Deutschland. 44 Frauen waren es 2021 in Spanien, 139 im Jahr zuvor in Deutschland; aktuellere Zahlen für Deutschland gibt es bislang nicht. Baerbock erfährt zudem, dass in Spanien schon bei der Ausbildung von Polizisten oder Richterinnen darauf geachtet wird, dass diese einen sensiblen Umgang mit Opfern geschlechtsbezogener Gewalt lernen. Frauen sollen sich ermutigt fühlen, Anzeige zu erstatten, wenn sie sich etwa von ihrem Partner oder Ex-Partner bedroht fühlen. Es gibt eine Notfallnummer, die sie wählen können, die 016. In Deutschland gibt es eine solche Nummer auch, aber sie ist lang und kompliziert.
Drei Stunden später steht Baerbock vor Kameras und Mikrofonen in einem langgezogenen Raum im Viana-Palast, der Residenz des spanischen Außenministers und sagt, sie sei „sehr beeindruckt“ von der Arbeit der Schwerpunktstaatsanwaltschaft. Natürlich weiß sie, dass das gerade nicht so viele Menschen interessiert. Sie erwähnt es trotzdem, weil sie es eben wichtig findet. Trotz – oder gerade wegen – der aktuellen Krise mit Russland und der weltweiten Systemrivalität zwischen autokratischen Regimes und Demokratien. Denn Frauenrechte sind immer auch ein Gradmesser für die Demokratie. In Russland zum Beispiel werden Männer, die ihre Partnerinnen misshandeln, eher selten bestraft.
Der Konflikt mit Russland verfolgt Baerbock auch nach Madrid
Verglichen mit Baerbocks Reisen der letzten Tage und Wochen – nach Kiew und Moskau, an die ukrainische Frontlinie und in den Nahen Osten – ist der Antrittsbesuch bei ihrem spanischen Kollegen fast schon ein Heimspiel. Die spanische Koalitionsregierung unter der Führung des Sozialisten Pedro Sánchez verfolgt in der Außenpolitik Ziele, die auch die deutsche Ampel-Koalition nicht schöner formulieren könnte: mehr Europa, mehr Multilateralismus, die Stärkung von Demokratie und Menschenrechten. Wie die Deutschen betrachten sich die Spanier als Vorreiter bei Klimaschutz und grünem Wandel. Noch dazu können sie Feminismus sagen, ohne zu erröten.
Über viele gemeinsame Themen hätten er und „meine Freundin Annalena“ sich ausgetauscht, sagt José Manuel Albares, wobei die Situation in der Ukraine derzeit natürlich im Fokus stehe. Er wolle die Botschaft übermitteln, sagt der Spanier, dass die europäischen Länder geeint und geschlossen für die territoriale Unversehrtheit der Ukraine und für die Rechte und Freiheiten der ukrainischen Bevölkerung eintreten würden. Alle diplomatischen Bemühungen um Frieden in Europa würden so lange wie nötig fortgesetzt.
Etwas konkreter wird die Außenministerin denn doch
Baerbock ergänzt: „Der Ausweg aus dieser Lage ist klar vorgezeichnet. Er kann nur über Gespräche führen.“ Für die Bundesregierung könne sie sagen, „dass wir das heute in Moskau noch einmal sehr deutlich gemacht haben“.
Eine ganz und gar überraschende Schlagzeile ist das noch nicht: Auch Deutschland ist weiterhin zum Dialog mit Russland bereit? Ein Versuch, der Außenministerin etwas Konkreteres zu entlocken: Falls die Hoffnung des heutigen Tages sich bestätigen sollte, falls Putin also keinen militärischen Großangriff auf die Ukraine befiehlt – was geschieht dann? Auf welche alternativen Szenarien bereitet sich das westliche Bündnis vor? Wie reagiert der Westen, wenn es zu dem kommt, was der amerikanische Präsident Joe Biden als „geringfügiges Eindringen“ in die Ukraine bezeichnet hat? Wo verliefe in diesem Fall die rote Linie des Westens, deren Überschreiten harte Sanktionen gegen Russland auslösen würde?
Baerbock steigt darauf ein: „Gerade im Jahr 2022 gibt es unterschiedliche Möglichkeiten und Szenarien eines Angriffs, der nicht prioritär militärisch sein müsste, sondern sich im Cyber-Raum, in vielen anderen Bereichen abspielen und destabilisierende Wirkung entfalten könnte.“ Man habe sich deshalb in den vergangenen Wochen gemeinsam auf diese unterschiedlichen Szenarien vorbereitet, in der Nato ebenso wie in der Europäischen Union, sagt sie und versichert: „Wir sind jederzeit bereit, hierauf mit harten Maßnahmen zu reagieren.“