Ob Frauen, Migranten oder Gesundheitspersonal: Die Pandemie hat Ungleichheit und Diskriminierung verstärkt. Im Amnesty-Jahresbericht steht auch Deutschland in der Kritik.
Die Corona-Pandemie hat zu einer deutlichen Verschlechterung der Menschenrechtslage für Millionen Menschen weltweit geführt. Dies schreibt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in ihrem Jahresbericht. In vielen Regionen habe die Pandemie Ungleichheit, Diskriminierung und Unterdrückung verstärkt, teilte Amnesty mit. Die Krise sei von zahlreichen Staaten missbraucht worden, um Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit weiter einzuschränken.
Dabei seien es in der Regel keine neuen Phänomene, die erst durch Corona entstanden seien. Vielmehr handle es sich um strukturelle Missstände, die im vergangenen Jahr dann überdeutlich hervortraten, sagte Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard. „Corona kann vielleicht nicht definieren, wer wir sind, aber die Pandemie zeigt deutlich, wie wir nicht sein sollten.“
Doch es gibt auch pandemiespezifische Probleme, die im Bericht kritisiert werden. „Die Pandemie hat auch die Mittelmäßigkeit und Verlogenheit, den Egoismus und den Betrug unter den Machthabenden dieser Welt verstärkt“, schreibt Callamard im Vorwort zu dem Bericht, der an diesem Mittwoch offiziell vorgestellt wird. Amnesty prangert vor allem die Benachteiligung ärmerer Länder bei der Verteilung von Corona-Impfstoffen an. Die für eine gerechte Versorgung gegründete Covax-Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sei von Russland, den USA und anderen Ländern unterminiert worden. Auch hätten mehr als 90 Länder Exportbeschränkungen für medizinisches Gerät, Schutzausrüstung, Arznei- und Nahrungsmittel verhängt. „Die Pandemie hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die Welt derzeit unfähig ist, bei einem globalen Ereignis mit großen Auswirkungen effektiv und gerecht zusammenzuarbeiten“, bilanziert Callamard den bisherigen weltweiten Kampf gegen die Pandemie.
Gesundheitspersonal oft nur unzureichend vor Infektionen geschützt
Im Jahresbericht, der die Menschenrechtslage in 149 Ländern in den Blick nimmt, nennt Amnesty mehrere Bereiche, in denen die Missstände durch die Corona-Pandemie besonders groß seien. So würden Beschäftigte im Gesundheitswesen oft nicht ausreichend vor einer Corona-Infektion geschützt. „Es ist bezeichnend, dass statistisch betrachtet im letzten Jahr alle 30 Minuten eine im Gesundheitswesen arbeitende Person mit Covid-19 gestorben ist“, sagt Amnesty-Deutschlandchef Markus Beeko. Auch habe Kritik an den Arbeitsbedingungen zu Festnahmen, Entlassungen oder anderen Strafmaßnahmen geführt. In 42 von 149 untersuchten Ländern hätten staatliche Stellen Gesundheitspersonal im Zusammenhang mit der Pandemie drangsaliert oder eingeschüchtert. Sogar zu Festnahmen sei es gekommen.
Durch die Pandemie habe sich zudem die Situation von Flüchtlingen und Migranten verschlechtert. In ebenfalls 42 Staaten habe es Berichte über Abschiebungen von Flüchtlingen und Migranten in Länder gegeben, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohten. Grenzschließungen hätten Menschen ohne Grundversorgung stranden lassen, viele seien in Lagern ohne sanitäre Grundausstattung festgesetzt worden, oft fehlten sauberes Wasser und wichtige Hygieneartikel.
Anstieg von häuslicher Gewalt durch Pandemie
Auch habe durch die Pandemie Gewalt in politischen Konflikten ebenso zugenommen wie Einschränkungen von Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Kritiker der Corona-Politik ihrer Regierungen seien vielerorts gezielt verfolgt und unterdrückt worden. „Zahlreiche Staaten missbrauchten die Gesundheitskrise, um weiter rechtsstaatliche Prinzipien aufzulösen und Rechte einzuschränken“, sagt Beeko.
Viele Menschenrechtsverletzungen passierten während der Pandemie auch im privaten Bereich. So wurde laut Amnesty in vielen Weltregionen ein erheblicher Anstieg von häuslicher Gewalt festgestellt. Für viele Frauen sowie lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intersexuelle (LGBTI) Menschen seien in der Pandemie Schutz- und Hilfsangebote nicht mehr verfügbar. In mindestens 24 Ländern dokumentierte Amnesty zudem Vorwürfe, dass Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität festgenommen worden seien – ein Anstieg von 16 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Kritik an Polizeigewalt in Deutschland
Auch die Menschenrechtssituation in Deutschland wird im Amnesty-Bericht kritisiert. So werden unter anderem rechte Aktivitäten bei der Polizei und anderen Sicherheitskräften bemängelt. „Weder auf Landes- noch auf Bundesebene wurden unabhängige Beschwerdestellen eingerichtet, um diskriminierendes und rechtswidriges Verhalten der Polizei unabhängig zu untersuchen“, heißt es im Bericht. Ende 2020 habe es in sechs Bundesländern weiterhin keine individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizeikräfte gegeben. „Der deutsche Rechtsstaat weist ausgerechnet dort Lücken auf, wo es um Transparenz und Kontrolle der Polizei geht – wichtige internationale Menschenrechtsstandards werden hier nicht eingehalten“, sagte die Amnesty-Expertin für dieses Thema, Maria Scharlau.
Doch neben all diesen Problemen sieht Amnesty auch positive Entwicklungen. Hier sei unter anderem eine Initiative mehrerer afrikanischer Staaten zu verzeichnen, die Straflosigkeit für Vergewaltigung und andere Formen sexualisierter Gewalt juristisch bekämpfe. Zudem habe sich im zurückliegenden Jahr eindrücklich gezeigt, wie „entschlossen Menschen für ihre Rechte und für faire und gerechte Chancen nach der Pandemie eintreten“, sagte Amnesty-Generalsekretärin Callamard.