- In den meisten Bundesländern sind die Abiprüfungen abgeschlossen. Und auch die Ergebnisse stehen schon fest.
- Trotz der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie sind die Abinoten in vielen Bundesländern deutlich besser als im Vorjahr.
- „Auch wenn man den gebeutelten Abschlussjahrgängen gute Noten gönnt, darf man nicht die Augen davor verschließen, dass diese Noteninflation nicht nur gute Seiten hat“, kritisiert der Lehrerverband.
Hannover. Geschafft! Endlich das Abi in der Tasche! Normalerweise steigt nun eine große Party – aber in die Freude über die bestandenen Prüfungen mischt sich bei einigen die bange Frage: Was ist das Corona-Abi wirklich wert? Ist es am Ende ein Reifezeugnis zweiter Klasse?
„An dieser Diskussion ist niemand so richtig interessiert“, sagt Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. „Aber es ist schon auffällig, welchen großen Sprung die meisten Bundesländer beim Abidurchschnitt nach oben gemacht haben.“
Von einem Trostpflasterabi für die gebeutelten Schülerinnen und Schüler will Meidinger nicht sprechen. „Natürlich waren die Bedingungen alles andere als gut“, räumt er ein. „Das waren schwierige Zeiten – und unsichere. Schließlich wurde in manchen Ländern zwischendurch auch diskutiert, ob die Prüfungen überhaupt stattfinden sollen.“ Dazu kamen der ständige Wechsel von Distanz- zu Präsenzunterricht, das lückenhafte Lernpensum, die Prüfungen mit Masken und die Angst, dass der Corona-Test doch positiv ausfällt. Meidinger stellt klar: „Ich möchte die Leistungen keinesfalls abwerten. Ein Teil der Jugendlichen hat sich sicherlich noch stärker auf das Abi fokussiert, als er es sonst getan hätte.“ Man habe nicht verreisen, in die Disco oder zu Partys gehen können – viel Zeit zum Lernen.
Das sei aber nur die eine Seite, erklärt Meidinger. „Jedes Bundesland hat seine eigenen Erleichterungen eingeführt: Da gab es mehr Prüfungsfragen und damit eine größere Auswahl, die Schüler konnten mehr schlechte Leistungen streichen oder verstärkt gute Ergebnisse aus Vorjahren für ausgefallene Klausuren nutzen. In Mecklenburg-Vorpommern wurden beim Matheabi sogar nachträglich die Ergebnisse hochgesetzt.“
Bemerkenswerte Leistungssprünge
Es sind Erleichterungen, die sich im Notendurchschnitt bemerkbar machen.
Beispiel Berlin: In der Hauptstadt haben die Abiturienten und Abiturientinnen ungewöhnlich gut abgeschnitten. Die Abibestnote 1,0 wurde von 421 Schülerinnen und Schülern erreicht, das sind 114 mehr als im Vorjahr. Der Gesamtschnitt kletterte von 2,35 auf 2,30.
Beispiel Bayern: Hier haben die Abiturienten und Abiturientinnen mit 2,14 den bislang besten Notendurchschnitt erzielt, den es je in diesem Bundesland gab.
Beispiel Hamburg: Hamburg verzeichnet den besten Schulabschluss seit zehn Jahren. Die Abiturienten und Abiturientinnen erzielten einen Notendurchschnitt von 2,27.
Aber auch in vielen anderen Ländern gab es so große Sprünge nach oben wie noch nie zuvor. In Schleswig-Holstein kletterte der Durchschnitt von 2,51 auf 2,41, in Hessen von 2,33 auf 2,27, in Sachsen-Anhalt von 2,33 auf 2,23, in Thüringen von 2,16 auf 2,06 – da ist man nicht mehr weit von einem landesweiten Einserschnitt entfernt – und in Brandenburg verbesserten sich die Abiturienten von 2,28 auf 2,20.
Ungerecht für frühere Jahrgänge
„Da ist teilweise zu viel des Guten gemacht worden!“, kritisiert Meidinger. „Auch wenn man den gebeutelten Abschlussjahrgängen gute Noten gönnt, darf man nicht die Augen davor verschließen, dass diese Noteninflation nicht nur gute Seiten hat.“ So werde es beim Studienbeginn im Herbst 2021 voraussichtlich viel mehr Bewerber mit einem 1,0-Abitur für Medizinstudienplätze geben, als Studienplätze gemäß der Bestenquote dafür zur Verfügung stehen. „Das ist absurd!“
Der Pädagoge befürchtet, dass dieser Benotungsschub nicht ohne Konsequenzen bleiben werde. „Zum einen sind die Vor-Corona-Jahrgänge angeschmiert, die sich zum Beispiel nach einem sozialen Jahr oder einer anderen Auszeit nun an den Unis bewerben. Schließlich ist die Abiturnote ein Hauptkriterium bei der Bewerberauswahl in zulassungsbeschränkten Studiengängen. Und das betrifft 40 Prozent aller Studienfächer.“
Zum anderen gebe es für die Unis und Hochschulen kaum noch Differenzierungsmöglichkeiten. „Wie soll man die wirklich Guten rausfiltern können?“, fragt Meidinger. „Die Konsequenz könnte sein, dass die Unis und Hochschulen verstärkt Eingangstests und Auswahlgespräche einführen.“ Das wiederum würde Jugendliche aus bildungsfernen Schichten benachteiligen, die sich hier erfahrungsgemäß oft schlechter verkaufen können – etwa wenn es um Motivationsschreiben und Selbstdarstellungen geht.
Verzerrte Selbsteinschätzung
Nicht zuletzt befürchtet Meidinger, dass man künftig an der Schule teilweise auch ohne große eigene Anstrengungen immer mehr mit guten Noten verwöhnt wird. „Damit verstärkt sich bei Jugendlichen eine verzerrte Selbsteinschätzung. Sie halten sich für besser, als sie sind, und können ihre Leistungen im Vergleich zu anderen nicht mehr realistisch einschätzen.“
Zudem seien die Jugendlichen nicht mehr gewohnt, mit Misserfolgserlebnissen umzugehen und kritische Situationen durchzustehen. Unis würden verstärkt berichten, dass Studierende – im Gegensatz zu früher – „schnell das Handtuch werfen, wenn mal eine Prüfung danebengegangen ist, und das Studium sehr schnell abbrechen oder das Studienfach wechseln“.
Wo endet dieser Wettlauf?
Meidinger glaubt nicht, dass die Bundesländer in den nächsten Jahren von diesem Trend zu einem immer besseren Abidurchschnitt abrücken werden. „Die Frage ist: Wo endet dieser Wettlauf, der das Abitur am Ende immer mehr abwertet?“ Der Pädagoge greift eine altbekannte Forderung auf: „Das Abitur in den verschiedenen Bundesländern muss vergleichbarer werden.“ Dafür müssten mindestens die Hälfte der Prüfungen dieselben sein.
Auch bei den Regelungen in der Vorabiturphase – bei der Möglichkeit, schlechte Ergebnisse auszusortieren – sollte es einheitliche Kriterien geben. „Immerhin werden dort zwei Drittel aller Punkte für die Abiturnote gesammelt“, so Meidinger. Nicht zuletzt müsse man die Korrekturverfahren angleichen. „Baden-Württemberg zum Beispiel gibt die Arbeiten für die zweite Korrektur an eine andere Schule – die Ergebnisse sind objektiver, als wenn ein Kollege aus dem eigenen Lehrerzimmer die Zweitkorrektur vornimmt.“
Andere Fähigkeiten ausgebildet
Gert Spevacek, Referent für Berufsbildung bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) Hannover, sieht den aktuellen Abiturjahrgang aus einem anderen Blickwinkel: „Wir haben noch mehr als 1000 freie Lehrstellen – und Abiturienten sind in den Betrieben sehr gefragt.“ Im vorigen Jahr hätten mehr als 36 Prozent der Azubis Hochschulreife gehabt. „Ich gehe davon aus, dass es in diesem Jahr ähnlich sein wird“, sagt Spevacek. „Es wird mit Sicherheit keinen Betrieb geben, der das Abitur als zweitklassig bemängelt.“
Der IHK-Referent verweist stattdessen auf andere Fähigkeiten, die sich der aktuelle Abijahrgang erarbeiten musste: „Die Schulabgänger mussten noch flexibler sein, noch selbstständiger und noch stressresistenter, als es die Abiturienten sowieso schon sein müssen. Wichtige Kompetenzen, die auch einen professionellen Umgang mit IT einschließen. Alles gute Voraussetzungen auf dem Arbeitsmarkt.“