Der ungesühnte Chemiekrieg gegen Serbien: Wer verurteilt endlich die Nato?

14.06.2021
Lesedauer: 7 Minuten
Ein Mann in den Ruinen seines Hauses nach einem Nato-Angriff am 7. Mai 1999 auf Nis, rund 230 Kilometer von Belgrad entfernt. Mindestens 15 Personen wurden damals getötet. Ziel war offenbar ein Industriegebiet außerhalb der Stadt, aber auch auf den Stadtrand fielen Bomben. / dpa/Sasa Stankovic

Ist mit dem endgültigen Urteil gegen den bosnisch-serbischen Armeechef Ratko Mladić die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in Jugoslawien wirklich abgeschlossen?

Achtundsiebzig Tage lang bombardierte die Nato 1999 ohne Uno-Mandat serbische Krankenhäuser, Schulen, Wasserwerke und Chemiebetriebe. Dieser erste Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung seit 1945 führte zu einer ökologischen und humanen Katastrophe. Doch Kirchen, Umweltverbände und Bündnis 90/Die Grünen schweigen bis heute.

Am 24. März 1999 begann die Nato ihren Luftkrieg gegen Serbien. Ausgerechnet der grüne Außenminister Joschka Fischer heizte mit seinem Kollegen Rudolf Scharping die Kriegsstimmung an. Um „ethnische Säuberungen“, weitere „Vertreibungen“ und eine „humanitäre Katastrophe“ zu verhindern, sei es dringend nötig einzugreifen. Diese Behauptungen sind längst widerlegt, wie Oberstleutnant a.D. Jochen Scholz, ehemaliger Referent beim Generalinspekteur der Bundeswehr im Verteidigungsministerium schon vielfach bestätigte. In den Lageberichten des Amtes für Nachrichtenwesen der Bundeswehr für die Parlamentsabgeordneten war bis zum letzten Tag vor dem Angriff immer nur von einem blutigen Bürgerkrieg zwischen UCK-Soldaten und der serbischen Armee die Rede.

Die Nato beschoss Krankenhäuser, Schulen, Klöster, Industriebetriebe

In einem Arte-Film des ORB vom Sommer 1999 von Sascha Adameck mit dem Titel „Bomben auf Chemiewerke“ erklärte der britische General und ehemalige Befehlshaber der UN-Schutztruppe in Bosnien, Michael Rose: „Das Ziel war, die Militärmaschinerie Miloševićs auszuschalten und zu zerstören. Doch das endete in einem Misserfolg. Daraufhin erweiterte man die Liste der Ziele auf sogenannte zivilmilitärische Ziele, also Brücken, Straßen, Stromversorgung, Krankenhäuser und sogar Fernsehstationen.“

Die Nato zerstörte oder beschädigte 60 Brücken, 110 Krankenhäuser, 480 Schulobjekte, 365 Klöster, das Fernsehzentren, die Strom- und Wasserversorgung, 121 Industriebetriebe. 2500 Menschen fanden den Tod. Als besonders zynisches Kriegsverbrechen gilt bis heute neben dem Einsatz von über 30.000 Urangeschossen an über 80 Orten die vorsätzliche Bombardierung der großen Chemiezentren in Pančevo, Novi Sad und Bor. Am 4. April 1999, zwölf Tage nach Beginn der Luftschläge, trafen zum ersten Mal Raketen die Raffinerie von Pančevo. Das auslaufende Öl brannte zwei Wochen. Am 6. April 1999 griffen Langstreckenbomber die ältere Ölraffinerie in Novi Sad an. 80.000 Tonnen Öl liefen aus, 20.000 Tonnen verbrannten. Eine riesige Wolke aus Ruß, Teer, Ölpartikeln, Schwefeldioxid und Stickoxiden lag über der Stadt. Nur ein Bruchteil davon löste im gesetzesstrengen Deutschland später den Dieselskandal aus und Debatten über jährliche Todesopfer.

Am 15. und 18. April 1999 und selbst noch am 8. Juni, kurz vor Waffenstillstand, zerstörte die Nato das serbische Chemiezentrum in Pančevo völlig. Erst wenige Jahre zuvor war es auch mit US-Hilfe modernisiert worden. Bauplangenau trafen computergesteuerte Raketen die Düngemittelfabrik, die Ölraffinerie, das PVC-Werk und auf den Meter exakt einen noch halbvollen Tank mit 450 Tonnen Vinylchlorid, dem krebserregenden Vorprodukt für die PVC-Herstellung. Es war einer der Behälter, die die Werkleitung noch als besonders gefährlich an die Nato gemeldet hatte. Obwohl vorsorglich noch 8000 Tonnen Ammoniak nach Rumänien transportiert worden waren, entwichen auch von diesem tödlichen Gas Hunderte Tonnen.

So zog eine 20 Kilometer lange Giftgaswolke mehr als zehn Tage über die Vororte von Belgrad in die Gemüse- und Kornkammern Serbiens. 40.000 Menschen wurden evakuiert. Allein die Konzentration des Vinylchlorids stieg zeitweise auf das 10.600-Fache des internationalen Grenzwertes. Als der Wind sich drehte, kroch die Wolke weiter nach Bulgarien, Rumänien, Ungarn. Selbst 550 Kilometer südlich maßen Wissenschaftler der griechischen Universitäts-Station Xanthi hochgiftige Dioxine und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffverbindungen.

Serbien hat die heute europaweit meisten Fälle von Lungenkrebs

Schon wenige Jahre nach Kriegsende beobachten serbische Mediziner wie der führende Belgrader Onkologe Vladimir Čikarić und die Neurologin Danica Grujičić einen dramatischen Anstieg der Krebsrate und Sterblichkeit. Heute liegt Serbien bei Lungen- und Brustkrebs an der Spitze Europas. Erst im Mai 2018 konnten Ärzte im westorientierten Belgrader Parlament die Gründung einer Untersuchungskommission für alle Folgen der Angriffe mit Uranmunition und auf die Chemieindustrie durchsetzen.

Für die Toxikologin Ursula Stephan aus Halle/Saale ist die Bombardierung der serbischen Chemiebetriebe bis heute ein ungesühnter vorsätzlicher Chemiekrieg, der Tausende Opfer von Langzeitschäden bewusst in Kauf nahm. Als 1999 alle deutschen Umweltverbände dazu schwiegen, war Stephan Vorsitzende der deutschen Störfall-Kommission, einer Expertenvereinigung für Sicherheitsfragen der Industrie und auch für die Folgen und Verhütung von Chemieunfällen. Als einzige Fachperson in Deutschland war sie Ende Juli 1999 auf Wunsch des World Wide Fund For Nature (WWF-Büro in Wien) dazu bereit, die zerstörten Chemieorte in Serbien (einem der über 150 „Weltzentren der biologischen Vielfalt“) zu besuchen und ein Gutachten zu den medizinischen und umweltrelevanten Aspekten zu erarbeiten.

Fast zeitgleich untersuchten Spezialisten der damals von Klaus Töpfer geleiteten UN-Umweltbehörde Unep vor Ort die Schäden der Chemieangriffe, darunter auch Experten vom Landesumweltamt Brandenburg. Doch sie hielten am Ende in ihrem Bericht den Ball Nato-freundlich flach und erklärten als Fazit ihrer Analysen, dass die meisten der durch die ausgelaufenen und verbrannten Chemikalien entstandenen „Verschmutzungen“ Altlasten aus der Zeit vor dem Krieg seien.

Nach deutschem Gesetz war das ein Super-GAU

Ursula Stephan dagegen deklarierte das Ausmaß der Zerstörung, der Bodenbelastung und vor allem der weiträumigen Giftgaswolken nach den strengen deutschen Gesetzen als „exzeptionellen Störfall“. Sozusagen als Super-GAU. Das heißt, als eine Katastrophe außer Kontrolle, für deren Ausmaße es keine Erfahrungen, Berechenbarkeit, keine Vorbereitungsmöglichkeiten und deshalb keine Abwehrszenarien gibt. Vergleichbar mit Tschernobyl oder Fukushima.

Aus 78.000 Tonnen verbrannter Explosiv- und Raketentreibstoffe und den Abgasen aus über 150.000 Flugstunden der Bombenflugzeuge und Marschflugkörper wurde, so die Experten, zu allen Chemikalien noch über eine Milliarde Kubikmeter luftverschmutzender Substanzen freigesetzt. Diese Gesamtmenge an Kohlendioxid, Stickstoffoxiden und unverbrannten Kohlenwasserstoffen war seit dem Golfkrieg der größte Beitrag zur Luftverschmutzung und zum Treibhauseffekt. „Wer die Chemieindustrie angreift“, sagte Frau Stephan 1999 im ORB-Umweltmagazin „Ozon“, „weiß, was er tut“.

Schon während der Luftangriffe hatte auch der Berliner Universitäts-Professor für Umweltplanung Knut Krusewitz diese Schläge gegen Chemiezentren als neuartigen Umweltkrieg bezeichnet, mit dem die Nato das Genfer Verbot von chemischen Waffen gezielt umging und gegen die Enmod-Konvention der UN-Vollversammlung von 1978 verstieß, nach der „umweltverändernde Techniken, die weiträumige, lang andauernde oder schwerwiegende Auswirkungen“ haben, als Mittel der Kriegsführung verboten sind. Doch bis heute herrscht zu den dramatischen Folgen dieses ersten Angriffskrieges der Nato mit deutscher Beteiligung großes Schweigen.

Im Umweltschutz keimte einst die friedliche Revolution von 1989

Wo ist sie hin, die in Ost wie West gewachsene Einheit von Umwelt- und Friedensbewegung? Während einer Europäischen Konferenz zur Atomaren Abrüstung in West-Berlin besuchten im Mai 1983 Petra Kelly, Gert Bastian und drei weitere Bundestagsabgeordnete der Grünen spontan Ost-Berliner Friedensaktivsten. Und entrollten auf dem Alexanderplatz mit der Forderung „Abrüstung in Ost und West“ gegen den Nato-Doppelbeschluss ein Transparent: „Die Grünen – Schwerter zu Pflugscharen“. Dieses biblische Symbol hatte der Kleinmachnower Grafiker Herbert Sander 1980 einer berühmten sowjetischen Skulptur vor dem New Yorker Uno-Gebäude nachempfunden. Und evangelische Jugendgruppen in der DDR verwendeten es während einer zehntägigen „Friedensdekade“ als Lesezeichen.

Die von der Stasi abgebrochene Aktion der grünen Friedens-Aktivisten Kelly und Bastian mit diesem Symbol bekundete auf spektakuläre Weise jene Friedens- und Umweltgedanken, aus denen 1989 in der Berliner Umweltbibliothek, der Dresdner Kreuzkirche, im Wittenberger Friedenskreis und in der Leipziger Nikolaikirche die Montagsdemonstrationen keimten. Und schließlich die friedliche Revolution von 1989. Nun, über 30 Jahre nach dem unblutigen Aufbruch der Ostdeutschen ist zu fragen, was ist aus den Idealen der westdeutschen Grünen und ostdeutschen Umweltbewegung geworden? Und was aus der so grundlegenden Uno-Charta von 1945 zum Gebot von Frieden: Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nation unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.

Hartmut Sommerschuh lebt als Autor in Potsdam. Von November 1989 bis 2003 war er Redaktionsleiter, nach der Zusammenlegung von SFB und ORB zum RBB verantwortlicher Redakteur der Umweltsendereihe „Ozon“. 1999 enstand unter seiner Verantwortung für Arte der erwähnte Film „Bomben auf Chemiewerke“ (Autor: Sascha Adamek).

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