Lokalzeitungen in den USA

Wüste Zeiten

06.07.2022
Lesedauer: 5 Minuten
Ist da noch wer? Viele Gegenden in den USA sind nachrichtentechnisch verwaist. (Foto: Mark Webster/imago images/Image Source)

Seit 2005 wurden in den USA etwa 2500 Lokalzeitungen eingestellt, in den kommenden drei Jahren sollen noch einmal 500 wegfallen. Was bedeutet das für Land und Leute?

Um zu verstehen, wie guter Lokaljournalismus funktioniert, schaue man sich zum Beispiel den Daily Breeze an, eine kleine Zeitung für die Strandgemeinden südlich von Los Angeles. Sie wurde 1894 gegründet und erhielt 2015 den Pulitzer-Preis für die Aufdeckung eines Finanzskandals im Schulbezirk. Die Themen sind hyperlokal. Man kann dort lesen, ob eine Stadträtin aus persönlichem Interesse an der Schließung eines Fitnessstudios beteiligt war, ob jemand wirklich drei Millionen Dollar Schadenersatz erhalten sollte, weil er gestolpert ist, und man kann sich über die besten Plätze an den Stränden fürs Independence-Day-Feuerwerk informieren.

Die Auflage des täglich erscheinenden Daily Breeze liegt bei 57 000 Exemplaren. Wer mit dem leitenden Redakteur Michael Hixon spricht, der auch für die zum Medienhaus gehörende Wochenzeitung The Beach Reporter (Auflage: 55 000) arbeitet, hört, was so ziemlich alle Journalisten derzeit über ihre Branche sagen: Es war schon mal besser, läuft aber irgendwie. Muss ja.

Seit 2005 sind in den USA 2500 Zeitungen eingestellt worden

Und das ist noch eine recht optimistische Beschreibung der Zustände in den USA. Bei vielen Lokalzeitungen lief es in den vergangenen Jahren gar nicht mehr. Einer Untersuchung der Journalistenschule an der Northwestern University zufolge wurden seit Beginn der Pandemie vor etwas mehr als zwei Jahren mehr als 360 Zeitungen in den USA eingestellt. Die Zahl ist noch nicht mal die beunruhigendste dieser Studie.

Die lautet: 2500. So viele US-Zeitungen sind seit 2005 eingestellt worden, rund ein Viertel von davor knapp 10 000. Studienleiterin Penelope Muse Abernathy sagt: „Die gute Nachricht ist: Die Befürchtungen, dass die Pandemie der Todesstoß für die meisten Zeitungen sei, haben sich nicht bewahrheitet. Die schlechte aber: Wir verlieren Zeitungen in der gleichen Geschwindigkeit wie davor.“

Laut Studie gibt es in den USA derzeit 1230 Tages- und 5147 Wochenzeitungen, insgesamt also 6377. So entstehen „News Deserts“, also Nachrichten-Wüsten. 70 Millionen Amerikaner leben laut Studie also in so einer Wüste. In zwei Dritteln der 3143 Bezirke in den USA gibt es gar keine oder nur eine Tageszeitung. Abernathy sagt: „Das ist eine schwere Bedrohung für die Demokratie.“

Was funktioniert: hyperlokal berichten, nah an den Leuten bleiben

Um besser zu verstehen, warum das so sein kann, muss man sich die Situation beim kalifornischen Daily Breeze anschauen – und die Nachrichten-Wüsten auf der US-Landkarte. Die Strandgegend südlich von L. A., genannt South Bay, gilt als wohlhabend. Restaurants, Fitnesstrainer und Wellnesstempel buhlen um Kunden, sie werben auf lokalen Portalen, schalten Anzeigen. Auch der Immobilienmarkt ist in der Gegend außer Kontrolle, weshalb redaktionelle Berichte über die schönsten und teuersten Häuser auf dem Markt (derzeit wird eines in Manhattan Beach für 36 Millionen Dollar angeboten) durchaus normal sind und Makler völlig entfesselt inserieren. Das sichert die Redaktion finanziell ab.

Daily Breeze und Beach Reporter ertrinken dennoch nicht im Geld, sie konkurrieren mit der Wochenzeitung Easy Reader (Auflage: 45 000) und dem Hochglanz-Magazin South Bay (40 000). Aber sie sind stolz darauf, unabhängig von Gönnern berichten zu können. In einer wohlhabenden Gegend am Pazifik funktioniert diese Art Journalismus also, so wie er in anderen wohlhabenden Gegenden laut Studie einigermaßen funktioniert – in anderen Gegenden dafür nicht mehr.

Östlich der Westküsten-Bundesstaaten verläuft ein Canyon von Norden nach Süden, von Idaho bis Texas, und von Texas aus nach Osten in ländlichen Gebieten bis nach Florida. Dieses „Flyover Country“, das so heißt, weil die Leute auf dem Weg von New York nach L. A. einfach drüberfliegen, wird oft vergessen, weil sich kaum jemand dorthin verirrt. Oder darüber liest. Willkommen in der Wüste.

Vielleicht ist es Zufall, dass die Nachrichten-Wüsten-Karte der Abtreibungsgegner-Regionen-Karte ähnelt, die jetzt zu sehen war, nachdem der Supreme Court entschied, das Grundsatzurteil „Roe vs Wade“ zu kippen und die Entscheidung über Abtreibung den jeweiligen Bundesstaaten zu überlassen. Fest steht aber: Es gibt ideologische, soziale, gesellschaftliche Unterschiede in diesem zerstrittenen Land – nicht nur zwischen den Bundesstaaten, sondern auch zwischen Bezirken. Deshalb sagt Abernathy auch: „Letztlich ist fürs Leben des Einzelnen in diesem Land bedeutsamer, für wen sie als Stadtrat oder Leiter des Schulbezirks stimmen als für welchen Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl.“

Der Demokrat aus Kalifornien interessiert sich kaum für den Republikaner aus Kentucky

Lokaljournalismus ist bedeutsam in einem solchen Land, denn: Was hat ein linksliberaler Kalifornier mit dem Republikaner aus Kentucky gemein außer der Übereinkunft, keinen gemeinsamen Nenner finden zu wollen? Wenn es niemanden mehr gibt, der über den Stadtrat oder den Skandal im Schulbezirk berichtet oder aufgrund der Monopolstellung eines Mediums nur so, dass es dessen Förderern gefällt, dann ist die Demokratie wirklich bedroht. Abernathy sagt: „Die Vereinigten Staaten sind auf Bundesebene journalistisch tief gespalten, das verschlimmert die politische, kulturelle und ökonomische Spaltung.“

Was die Studie nämlich auch zeigt: In den Nachrichten-Wüsten liegt die Armutsrate mit 16 Prozent höher als im Landesschnitt, wo sie bei elf Prozent liegt, und das mittlere Einkommen mit 52 000 Dollar deutlich niedriger als der Landesschnitt von 67 500 Dollar. Und es gibt in journalistisch isolierten Gegenden mehr Korruption, sowohl bei Firmen als auch in Behörden. Die Studie prognostiziert, dass sich die Lage noch verschlimmern wird, bis 2025 dürften noch einmal mehr als 500 Zeitungen eingestellt werden. Die, die überleben, werden wohl Personal abbauen müssen, was die journalistische Qualität gefährdet. Eine Lösungsidee liefert die Studie nicht.

Sicher ist allerdings, dass auch der überregionale Journalismus ohne den Lokaljournalismus verarmt. Heißes Gesprächsthema in der South Bay derzeit: Die Stadt Manhattan Beach gibt 650 Quadratmeter Land direkt am Pazifik zurück an die Nachkommen der afroamerikanischen Familie Bruce, die vor mehr als 90 Jahren enteignet worden war. Wert: etwa 20 Millionen Dollar. Warum sich der Bezirk Los Angeles des Themas überhaupt angenommen hatte? Wegen der Berichte im Daily Breeze.© SZ/clu – Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.

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