Der Prozess um den Mord am Journalisten Peter R. De Vries konfrontiert die Niederlande mit den tiefen Abgründen der Unterwanderung des Rechtsstaats.
AMSTERDAM taz | Wie glaubwürdig ist das Bedauern eines vermeintlichen Mordmaklers? „Ihr sollt wissen, dass ich dies nicht gewollt habe“, sagte der Verdächtige Krystian M. während der letzten Sitzung Ende Januar zu Kelly und Royce, den Kindern des Ermordeten. „Ich habe unter Druck Berichte weitergeleitet. Es wurden sehr heftige Dinge zu mir gesagt, die ich nicht wiederholen möchte. Wenn ich etwas anders machen könnte, ich würde es tun. Es tut mir leid.“
Vier Wochen später zeigt sich die Staatsanwaltschaft davon unbeeindruckt. Es ist eines der letzten Male, dass das Gericht im sogenannten Bunker, einem extra gesicherten Gebäude ganz im Westen Amsterdams, zusammenkommt, um über den Mord am Journalisten Peter R. De Vries im Juli 2021 zu sprechen. Krystian M. sei freiwillig einer kriminellen Vereinigung, die Mordaufträge ausführte, beigetreten, so die Anklage. Sie sieht M. nicht als „wehrloses Opfer“, sondern als „Mordmakler“ und Koordinator der Tat, der genau wie der Schütze und sein Chauffeur lebenslänglich hinter Gitter soll.
Mordmakler ist eines der Wörter, an die man sich in den Niederlanden in den letzten Jahren gewöhnt hat. Nicht zuletzt durch diesen Prozess gegen die neun Verdächtigen, denen der Anschlag auf den bekannten Crime-Journalisten an einem Juliabend mitten in Amsterdam zur Last gelegt wird.
Berater des Kronzeugen
Zur Zielscheibe gemacht hatte De Vries seine Rolle in einem anderen Verfahren: Im sogenannten Marengo-Prozess beriet er den Kronzeugen Nabil B. 17 Verdächtige der sogenannten Mocro-Mafia standen seit Ende 2018 vor demselben Gericht, darunter Ridouan Taghi, Chef eines Kartells, das zeitweise ein Drittel des europäischen Kokainmarkts beherrscht haben soll. Bei dem „Jahrhundertprozess“, wie niederländische Medien ihn nannten, ging es um sechs Morde zwischen 2015 und 2017. Er brachte das Vertrauen in den Rechtsstaat ins Wanken wie keiner zuvor.
Kronzeuge Nabil B. spielte dabei eine zentrale Rolle: 2018 wurde sein Bruder in Amsterdam ermordet, 2019 sein Anwalt Derk Wiersum. Es war der Moment, als die Bewohner*innen der Stadt merkten, dass die regelmäßigen Morde in Außenbezirken sich eben nicht wie gedacht auf das „kriminelle Milieu“ beschränkten. Der Mord am überaus beliebten De Vries mitten im touristischen Trubel war das Ausrufezeichen hinter dieser schockierenden Erkenntnis.
Wie eng beide Prozesse verwoben sind, zeigt sich, als sie sich Ende Februar auch zeitlich überschneiden. Einen Tag bevor im Prozess De Vries die letzte Sitzung beginnt, werden die Urteile gegen die Marengo-Verdächtigen verkündet. Das Gebiet um den „Bunker“ ist nahezu abgeriegelt, an jeder Straßenecke stehen Polizisten in schwarzen Uniformen, mit Gesichtsbedeckung und Automatikwaffen im Anschlag. Ein Hubschrauber kreist über dem Gebäude, etwas höher steht eine Drohne in der Luft. Autos mit dunklen Scheiben preschen vor, fahren in einen Seitenflügel des Gerichts, wo die Verdächtigen in Sekundenschnelle nach drinnen bugsiert werden.
Kartellboss Taghi wird an diesem Morgen zu lebenslanger Haft verurteilt, ebenfalls seine vermeintliche rechte Hand Said R. und Mario R., ein weiterer Angeklagter. Beide wollen dagegen in Berufung gehen. Die anderen müssen für knapp zwei bis gut 29 Jahre ins Gefängnis, zehn Jahre der Kronzeuge Nabil B. „Ein wichtiger Moment“, postet Justizministerin Dilan Yeşilgöz auf X. „Das organisierte Verbrechen ist in den letzten Jahren zu einer immer größeren Bedrohung für die Sicherheit von uns allen geworden.“
Kalkulierter Schockeffekt
Details und Ausmaße davon werden einen Tag später auf der Zielgeraden des De-Vries-Verfahrens deutlich. Die Staatsanwaltschaft erklärt noch einmal, warum sie erstmals einen Mord im Kontext des organisierten Verbrechens als terroristische Tat sieht. „Es war die Absicht, der Bevölkerung große Angst einzujagen.“ Davon zeugten nicht nur der öffentliche Tatort, sondern auch die beiden Männer, die den niedergeschossenen Journalisten filmten und die Aufnahmen auf Social-Media-Kanälen verbreiteten.
Zweifellos hatte der Mord an De Vries – eine Mischung aus hard-boiled detective mit Celebrity-Faktor und Anwalt, der sich unerbittlich für Menschen einsetzt – einen massiven Schockeffekt auf diese Gesellschaft. Ähnlich war es nach dem Mord an Anwalt Derk Wiersum, als dessen Amtskollege Willem Jan Ausma beschloss, keine Kronzeugenfälle mehr anzunehmen, weil er „das Leben schöner als meinen Beruf“ fand – oder im Herbst 2022, als Berichte über eine drohende Entführung von Premier Rutte oder Kronprinzessin Amalia durch die Mafia die Runde machten.
Das Image des „Narco-Staats“ Niederlande hatte sich damals längst verbreitet. Auf den Punkt brachte es 2021 ein Spiegel-Titelbild, das in seiner stereotypen Verkürzung ikonisch wurde: Frau Antje mit Kleidertracht und Joint im Mundwinkel, in der rechten Hand eine Kalaschnikow, in der linken einen Gouda mit versteckten Kokainsäckchen. „Wie die Niederlande mit naiver Drogenpolitik die Mafia groß machten“ hieß die zugehörige Titelstory.
Nicht zum ersten Mal wurde damit das Image einer Gesellschaft dekonstruiert, die vor nicht allzu langer Zeit noch als Vorbild von Offenheit und Liberalismus galt. Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert waren die Niederlande nicht nur Motor einer progressiven Soft-drugs-Politik, sondern wurden auch als Beweis dafür gesehen, dass es möglich ist, Cannabiserwerb und -konsum vom kriminellen Milieu zu trennen. Das „High sein, frei sein“-Image Amsterdams lief der Stadt überall voraus, der Coffeeshop war lange eine weltweit bewunderte Errungenschaft.
Liberale Drogenpolitik
Der Geburtsfehler der 1976 eingeführten Duldungspolitik – Cannabis war demnach nie legal, sondern lediglich der Verkauf und Kauf geringer Mengen sowie der Konsum von der Strafverfolgung ausgenommen – war die sogenannte illegale Hintertür der Coffeeshops. Deren Einkauf blieb genauso verboten wie die Produktion. Der so geschaffene illegale Markt hatte umso enormere Gewinnmargen, je populärer das Modell unter Besucher*innen aus der ganzen Welt wurde. Der spätere Kokainboss Taghi stieg in den 1990ern ins Haschischgeschäft ein.
Inzwischen hat sich der Markt diversifiziert, und die Niederlande sind ein wichtiger Standort für die Produktion synthetischer Drogen geworden. 105 Labore wurden 2022 ausgehoben, vor allem die Crystal-Meth-Produktion steigt, Zahlen für 2023 liegen noch nicht vor. In der Regel spielt sich dieser Prozess in dünn besiedelten, peripheren Gebieten ab. Ende Januar jedoch ereignete sich eine Explosion in einer Garage unter einem Rotterdamer Wohnhaus, bei der es drei Todesopfer gab. Offenbar war hier ein Labor für chemische Drogen untergebracht.
Die entsetzten Reaktionen ähneln denjenigen nach den Morden an Wiersum und De Vries. Einmal mehr wird deutlich, wie weit sich die Strukturen des klandestinen Markts von den vermeintlichen Rändern bis in die Mitte der Gesellschaft ausgedehnt haben. Eigentlich können die Niederländer*innen dies auch täglich in den Nachrichten sehen, oder, je nach Wohnort, hören: seit Monaten nimmt die Zahl der nächtlichen Explosionen an Wohnungsfassaden zu. 378 waren es offiziell 2023, die meisten in Rotterdam, gefolgt von Amsterdam.
Die Hintergründe sind unklar, angenommen werden milieuinterne Abrechnungen und Einschüchterungen, die freilich ganze Nachbarschaften in Gefahr bringen. Bislang ist es bei Sachschaden geblieben. Kurz bevor im Bunker die letzte Sitzung im De-Vries-Prozess beginnt, meldet der lokale Sender AT5, dass es in der Nacht in Amsterdam vier Explosionen gab. Drei sollen in Verbindung mit einem am Wochenende erschossenen Rapper stehen, an zwei Tatorten fand man das Wort „war“ auf eine Mauer gesprüht.
Femke Halsema, Amsterdams Bürgermeisterin, schlägt angesichts dieser Zustände Alarm. Zu Jahresbeginn publizierte sie einen Essay im Guardian, der international viel Beachtung fand. „Wir sind stolz auf unsere gesundheitsorientierte Drogenpolitik, aber der globale Anstieg illegalen Drogenhandels bedeutet, dass wir internationale Lösungen brauchen“, schrieb Halsema. Ohne einen anderen Ansatz seien die Niederlande auf dem Weg zum Narkostaat.
Wenige Wochen später empfing sie bei einer Konferenz aktuelle und ehemalige Kolleg*innen, unter anderem aus Bogotá und Kapstadt. Sie diskutieren über eine Regulierung – „keine Legalisierung!“ – von Drogen wie Kokain oder Ecstasy, um die Auswirkungen des illegalen Markts zu bekämpfen. Der War on drugs, so Halsema, sei eine Sackgasse und löse das Problem nicht, sondern verschwende öffentliche Mittel, während Kriminelle weiter enorme Profite machten.
Im Bunker am Rand der Stadt bekommen diese Worte ihre eigene Dimension. Jahrelang dröhnten hier an Sitzungstagen Polizeihubschrauber, gepanzerte Fahrzeuge fuhren vor und wieder weg, die Sicherheitsoperationen, an denen sich zeitweise auch die Armee beteiligte, waren die größten in der niederländischen Justizgeschichte. Im Juni werden, diese Schlüsse lässt die Beweislage zu, auch die Verdächtigen im De-Vries-Prozess zu langen Haftstrafen verurteilt. Das Berufsbild des Mordmaklers gehört damit noch nicht der Vergangenheit an.