Der «Spiegel» verbreitet eine Geschichte über ein totes Flüchtlingsmädchen, das es vielleicht gar nicht gibt. Parallelen zum Fall Relotius streiten deutsche Medien ab – zu Recht?

12.12.2022
Lesedauer: 9 Minuten
Hin- und hergeschoben von Grenzwächtern: Migranten am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros, März 2020. Foto: Emrah Gurel / AP

An der türkisch-griechischen Grenze kommt es regelmässig zu Menschenrechtsverletzungen und Todesfällen. Nun steht das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» unter Verdacht, aus politischen Motiven eine erfundene Geschichte verbreitet zu haben.

Den Flüchtlingen, das stellt Vasiliki Siouti gleich klar, wirft sie nichts vor. «Sie sind Opfer von Gewalt, von Schmugglern und Erpressungsversuchen», sagt sie. «Was sie bestimmt nicht brauchen, sind Fake News, die in Europa noch mehr Misstrauen schüren.» Als Journalistin des Athener Magazins «Lifo» beschäftigt sich Vasiliki Siouti regelmässig mit Migrationsthemen, mit den Tausenden, die an der griechisch-türkischen Grenze jedes Jahr versuchen, Zäune und Meeresengen zu überwinden, um nach Europa zu gelangen – und dabei oft mit dem Leben bezahlen.

Seit diesem August ist Vasiliki Siouti nicht nur in Griechenland bekannt. Besonders in der Redaktion des deutschen Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» sorgen ihre Recherchen für Unruhe. Kürzlich hat das Magazin vier Artikel von seiner Website entfernt, um sie zu prüfen. Das Magazin muss sich den Vorwurf gefallen lassen, es habe aus dem Fall Relotius nichts gelernt. Schliesslich hatte der Ende 2018 entlarvte Fälscher Claas Relotius ganze Geschichten erfunden, unter anderem über Flüchtlinge und mörderische Grenzwächter.

«Sie liebte Comics und wollte ein Fernsehstar werden»

Die Artikel, die derzeit geprüft werden, thematisieren das Schicksal einer Gruppe von mehrheitlich syrischen Flüchtlingen, die in diesem Sommer an die Grenze zu Griechenland gelangte. Dies vermutlich auf Druck der türkischen Behörden, die Flüchtlinge zum Teil mit Gewalt abschieben und als Druckmittel gegen die EU einsetzen. Die Migranten berichteten, sie seien von türkischen und griechischen Sicherheitskräften mehrmals über die EU-Grenze und wieder zurück gejagt worden. Schliesslich mussten sie mehrere Wochen auf einer Insel im Fluss Evros ausharren, in einem militärischen Sperrgebiet und unter freiem Himmel.

Während die griechischen Behörden behaupteten, es gehe um türkisches Hoheitsgebiet und sie könnten die Flüchtlinge nicht orten, forderten NGO und linke Parteien die EU auf, die Gruppe aufzunehmen. Am 9. August berichteten Athener NGO aufgrund eines Hilferufs der Migranten, ein fünfjähriges Mädchen sei an einem Skorpionstich gestorben. Ein weiteres sei gestochen worden und schwebe in Lebensgefahr. Griechische Medien übernahmen die Geschichte am gleichen Tag, inklusive Vorwürfen an die griechischen Behörden, sie seien wegen unterlassener Hilfeleistung mitschuldig.

Am 10. August verbreitete auch der «Spiegel» die Story vom toten Flüchtlingsmädchen und lancierte eine Kampagne mit mehreren Berichten. Deren Tenor: Die griechische Regierung und die EU sind schuld am Tod eines Mädchens. «Sie liebte Comics und wollte ein Fernsehstar werden», so heisst es in einem Artikel. «Zurück bleiben mit ihrem Schmerz Marias Eltern (. . .) und Marias vier Geschwister.»

Wo ist das fünfte Kind, von dem der «Spiegel» berichtet?

Auch die Artikelüberschriften lassen keine Zweifel offen, dass man es mit Tatsachenberichten zu tun hat: «Maria, fünf Jahre, gestorben an der EU-Aussengrenze», so lauten sie, «Wie der Tod der fünfjährigen Maria die Flüchtlingsdebatte in Griechenland verändert» oder «Todesfalle EU-Grenze». Dass die EU-Grenze eine Todesfalle ist, würde auch Vasiliki Siouti niemals bestreiten. Aber sie bezweifelt, dass die Geschichte mit dem toten Mädchen stimmt. «Als ich den ersten Bericht gelesen habe, wurde ich stutzig», erzählt sie. «Es gab keine journalistischen Beweise, nur Vorwürfe und Behauptungen.»

Gleichwohl verbreitete sich die Geschichte in internationalen Medien, die dem «Spiegel» vertrauten. Dies auch, weil die griechische Regierung zunächst ebenfalls Aussagen der Flüchtlinge zitierte, wonach ein Kind verstorben sei – vermutlich, um die türkischen Behörden anzuschwärzen. Am 15. August durfte die Flüchtlingsgruppe nach Griechenland einreisen, wobei der konservative Migrationsminister Notis Mitarachi am 16. August schrieb, dass man 35 Syrer und 3 Palästinenser aufgenommen habe. Sie seien von der türkischen Polizei zur illegalen Überfahrt gezwungen worden. Aus Zeugenaussagen gehe zudem hervor, dass ein Mädchen «auf türkischem Gebiet» gestorben sei, «bedauerlicherweise».

Später wollte Mitarachi nichts mehr von einem toten Kind wissen. Vasiliki Siouti misstraute allen Berichten und reiste ins nordgriechische Dorf Fylakio, wo die Flüchtlingsgruppe in einem Lager untergebracht worden war. Bei ihren Recherchen stiess sie auf zahlreiche Ungereimtheiten. Glaubt man dem «Spiegel», hatten Marias Eltern fünf Kinder, einen Sohn und vier Mädchen.

Auf einer Liste, welche die Flüchtlingsgruppe im Juli an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof schickte – also vor dem angeblichen Tod Marias –, stehen jedoch nur vier Namen, darunter jener Marias. Auch auf Fotos und Videos, die die Gruppe vor dem Tod des Mädchens aufgenommen hat, sind nach Angaben von Vasiliki Siouti immer nur drei Mädchen zu sehen. Bei ihrer Ankunft in Fylakio registrierte die Familie erneut vier Kinder, eines der Mädchen hiess nun aber Maya statt Maria.

Im Zweifel eher nichts schreiben – sagt das «Spiegel»-Statut

Wie Vasiliki Siouti Anfang September in zwei Berichten für das «Lifo»-Magazin festhält, weicht man in Fylakio ihren Fragen zu Marias Schicksal aus. «Wir wollen nicht darüber reden, wir sind müde», hätten ihr die Eltern gesagt. Kaum jemand habe über den Vorfall sprechen und ihn untersuchen lassen wollen. Es gebe keine Kleider des Kindes, niemand wolle sich erinnern, wo es beerdigt sei. Eine Exhumierung hätten die Eltern abgelehnt.

Eine der Wortführerinnen der Flüchtlinge, eine junge Frau, die sich Baida nennt und NGO mit Videos und Hilferufen versorgte, nährte bei Vasiliki Siouti zusätzliche Zweifel. In einem Video, in dem sie weinend über die Skorpionstiche berichtet, erwähnt sie auch ihre 70-jährige Grossmutter. «Als sie es nach Griechenland geschafft hatte, schien sie keine Grossmutter mehr dabeizuhaben», sagt Siouti der NZZ. «Das zweite Mädchen, das angeblich von einem Skorpion gestochen wurde, hatte nach Angaben der griechischen Behörden nur Mückenstiche.» Baida ist laut Siouti seit einiger Zeit verschwunden.

Siouti fände es verständlich, wenn die Flüchtlinge in ihrer Notlage Unwahrheiten erzählt hätten, um Hilfe zu erhalten. Was sie nicht versteht, ist das Verhalten des «Spiegels», der offensichtlich Dinge behaupte, die er bis heute nicht beweisen könne. «Und das, obwohl sie nach dem Fall Relotius angekündigt haben, ihre Artikel besser zu prüfen.» Tatsächlich verlangten die Statuten des Magazins schon vor dem Fall Relotius, dass jede Nachricht und jede Tatsache «peinlichst genau» zu prüfen sei. Im Zweifel sei «eher auf eine Information zu verzichten, als die Gefahr einer falschen Berichterstattung zu laufen».

Der «Spiegel» hat anfänglich versucht, Zweifel an seiner Geschichte als Angriff auf die Pressefreiheit abzutun, weil die griechische Regierung seine Griechenland-Reporter persönlich attackierte und auf der Chefredaktion intervenierte. Einer der Autoren der Artikelserie, Giorgos Christides, erklärte zudem, er glaube Marias Eltern, zudem lägen ihm eidesstattliche Erklärungen vor, welche die Existenz von Maria bestätigten. Von wem diese stammen, bleibt offen. Denn mittlerweile will sich die «Spiegel»-Redaktion nicht mehr äussern, bis die Vorwürfe geklärt sind.

Viel Nachsicht für die Journalistenkollegen

Obwohl bereits jetzt klar ist, dass die internen Kontrollen versagt haben, halten sich viele Medien mit Kritik zurück. Die staatlich finanzierte Deutsche Welle etwa kritisiert lieber die «populistischen» Kritiker des «Spiegels» und die griechische Regierung, die keine Beweise für die Nichtexistenz des Kindes vorgelegt habe. Auch das Portal «Übermedien», das Journalisten sonst weit harmlosere Fehlleistungen um die Ohren schlägt, beschäftigt sich viel lieber mit der griechischen Regierung, die notorisch lüge und die Pressefreiheit missachte. Als ob das Journalisten von ihrer Verantwortung entbinden würde.

Bezüge zum Fall Relotius streiten die genannten Medien kategorisch ab, die Deutsche Welle findet derlei Vergleiche «unpassend». Tatsächlich gibt es wesentliche Unterschiede, aber auch eine Parallele: In beiden Fällen geht es um die Versuchungen eines Haltungsjournalismus, der im Publikum die gewünschten politischen Reflexe auslösen soll. Claas Relotius fälschte seine Reportagen vorsätzlich. Politisch eher ein Opportunist, erdichtete er Geschichten, von denen er glaubte, sie kämen beim jeweiligen Zielpublikum und bei seinen Vorgesetzten an. Für die rechte «Weltwoche» erfand er blutrünstige Albaner. Als Starreporter des linken «Spiegels» schrieb er über hinterwäldlerische Trump-Anhänger, die über «Bohnenfresser» lästern und zum Spass ein dunkelhäutiges Kind quälen.

Die Geschichte, mit der er aufflog, drehte sich um eine Bürgerwehr, die an der mexikanisch-amerikanischen Grenze Jagd auf Migranten macht. Die Schlussszene geht so: «Jaeger blinzelt in die Dunkelheit, das Gewehr liegt auf seiner Schulter. Er hat kein Ziel. Er kann nichts sehen. Und irgendwann drückt er ab.» Die Szene ist frei erfunden, passt aber perfekt in das politische Narrativ, das Relotius verbreiten sollte: Seine Vorgesetzten verlangten explizit nach einem trumpistischen Grenzwächter, der sich «wie Obelix auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut».

«Journalistische Wahrheiten» statt Beweise

Nachzulesen ist das im Buch «Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus» von Juan Moreno, der Relotius entlarvt hat. Moreno arbeitet als «Spiegel»-Reporter oft in Grenzgebieten. In seinem Buch schreibt er, es sei für eine Redaktion fast unmöglich, Aussagen von Flüchtlingen zu prüfen. Bis heute werden solche Aussagen aber, wie die jüngste «Spiegel»-Affäre zeigt, von Medien oft wie Tatsachen verbreitet. Anders als Claas Relotius erfand die «Spiegel»-Redaktion im Fall der angeblich verstorbenen Maria zwar nichts, zumindest nicht selber. Aber die beiden Autoren Giorgos Christides und Maximilian Popp verbreiteten eine Geschichte, die ihnen politisch offensichtlich so gelegen kam, dass sie diese trotz ungenügender Faktenlage übernahmen.

Beide Autoren üben regelmässig Kritik an der EU-Grenzpolitik, an illegalen Pushbacks, an Frontex und den griechischen Behörden. Die Kritik an diesen Zuständen geht bei den «Spiegel»-Journalisten einher mit Klagen über die angebliche Abschottung der EU und indirekten Forderungen nach einem bedingungslosen Recht auf Einwanderung. Popp bezichtigte kürzlich selbst die nicht eben als Asyl-Hardlinerin bekannte deutsche Innenministerin Nancy Faeser, sie schüre Ängste vor Migranten.

Sie vertreten damit Positionen, die sich kaum von denen linker NGO unterscheiden, welche die Geschichte der kleinen Maria als Erste zu instrumentalisieren versuchten. In einem «Spiegel»-Podcast zum Thema «Todesfalle EU-Grenze» zeigte sich Christides erfreut, dass die Geschichte endlich «die öffentliche Meinung sensibilisiert» habe. In einem anderen, kürzlich von der «FAZ» zitierten Podcast meinte er sinngemäss, es sei doch kein Problem für Europa, die vier Millionen syrischen Flüchtlinge aufzunehmen, die heute in der Türkei leben. Im Journalismus, so erklärte er weiter, gehe es zwar um Wahrheitsfindung, aber diese «journalistische Wahrheit» dürfe man nicht mit einem gerichtlichen Beweis verwechseln.

Bis heute kursieren Gerüchte, wonach die Eltern nun doch eine Exhumierung wünschen, und linke griechische Medien behaupten, Maria und Maya seien Zwillingsschwestern gewesen, um das Dilemma mit dem fünften Kind zu lösen, das weder auf Fotos noch auf Listen zu sehen ist. Vasiliki Siouti hat Giorgos Christides am 30. August auf Twitter gefragt, wo denn das fünfte Kind sei, das gemäss seinen Artikeln existieren müsste. Er sagte ihr, sie solle Geduld haben. Auf eine Antwort wartet sie bis heute.

Das könnte Sie auch interessieren

Für Energiekonzern
01.12.2024
EU-Plan gescheitert
29.11.2024
ARD-Show "Die 100"
26.11.2024
Abstimmung über neue EU-Kommission
27.11.2024

Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

zwanzig − eins =

Weitere Artikel aus der gleichen Rubrik

ARD-Show "Die 100"
26.11.2024

Neueste Kommentare

Trends

Alle Kategorien

Kategorien