Corona: Angela Merkels fragwürdige Medienpolitik in Krisenzeiten

04.12.2022
Lesedauer: 5 Minuten
So sah es aus, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Sprecher Steffen Seibert (rechts) öffentlich über Corona-Massnahmen informierten. Dabei kamen auch die Ministerpräsidenten von Berlin (links) und Bayern (Mitte) zu Wort. Es gab allerdings andere Unterrichtungen, die nicht allgemein zugänglich waren Foto: Pool / Getty Images Europe

Die deutsche Regierung darf aus eigener Initiative Informationen an Journalisten geben – reglementieren oder steuern darf sie die Berichterstattung aber nicht. Während der Pandemie wurde womöglich genau das versucht.

Zu Zeiten der grossen Koalition hat die deutsche Regierung ausgewählte Journalisten in geschlossenen Hintergrundkreisen über ihre Absichten informiert. Bundeskanzlerin Angela Merkel von den Christlichdemokraten liess zum Beispiel zehn bis zwölf Berichterstatter zum sogenannten «Linsensuppen-Format» einladen, um während der Flüchtlingskrise 2015 ihre Beweggründe für politische Entscheidungen darzulegen. Das berichten Teilnehmer der Runde.

Eine Zeitlang erlahmte diese Praxis danach offenbar. Doch als sich zu Beginn des Jahres 2020 abzeichnete, dass das Coronavirus ein grösseres Problem werden könnte und dass namentlich die Bundeskanzlerin sehr harte Gegenmassnahmen für geboten hielt, nahm man die gezielte Information ausgewählter Journalisten wieder auf.

Kurz vor der gemeinsamen Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder (MPK) mit der Kanzlerin, die am 16. März 2020 den ersten deutschen Lockdown (22. März bis 4. Mai 2020) beschloss, habe der damalige Regierungssprecher 20 bis 25 Kollegen zu einem Zoom-Meeting mit Merkel eingeladen, so erinnern sich Teilnehmer.

Druck auf die Bundesländer

Es war die Zeit, in der die Kanzlerin auch eine dramatische Fernsehansprache hielt («Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt») und sich selbst öffentlichkeitswirksam in Quarantäne begab, nachdem sie einem Corona-positiven Arzt begegnet war.

Im weiteren Verlauf der Krise wurde an den Tagen vor wichtigen Bund-Länder-Schalten immer wieder zusammengerufenen Journalistengruppen «die Sichtweise des Kanzleramts, dass strenge Lockdowns nötig sind, so eindringlich dargestellt, dass es zum Gipfeltag in Zeitungen und Onlineportalen stand – und Druck auf die Bundesländer ausübte». Das berichtet die Zeitung «Der Tagesspiegel».

Medialer Druck schien den Vertretern der Linie «harte Massnahmen» nötig, weil von einzelnen Bundesländern auf sachverständigen Rat hin alternative Pandemie-Schutzmassnahmen vorgeschlagen wurden. Insbesondere das von Merkels Nach-Nachfolger als CDU-Vorsitzender und Kanzlerkandidat, Armin Laschet, regierte Nordrhein-Westfalen machte der Kanzlerin und ihrem «Team Vorsicht» in Berlin Kummer. Aus ihrer Sicht galt es, «Öffnungsdiskussionsorgien» um jeden Preis zu vermeiden.

Anspruch der Presse auf Gleichbehandlung

Nun ist es öffentlichen Stellen, also selbstverständlich auch der Bundeskanzlerin und ihrem Bundespresseamt, durchaus erlaubt, neben allgemeinen, für alle Medien zugänglichen Pressekonferenzen auch individuellere Formate wie Hintergrundgespräche anzubieten.

Laut einem aktuellen Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, das der NZZ vorliegt, darf aber die Informationsweitergabe aus eigener Initiative und eigener Themenauswahl «nicht auf eine Reglementierung oder Steuerung der Medien oder eines Teils von ihnen» hinauslaufen. Zudem besteht der Anspruch der Presse auf Gleichbehandlung im publizistischen Wettbewerb.

Der Staat müsse danach Pressevertreter «im Rahmen der Informations- und Pressetätigkeit in Bezug auf Zeitpunkt, Inhalt und Umfang grundsätzlich gleichbehandeln», heisst es in dem Gutachten. Sei aus bestimmten Gründen eine Auswahl oder Beschränkung von Teilnehmerzahlen nötig, so müsse diese auf «meinungsneutralen und sachgerechten» Kriterien beruhen.

Um beurteilen zu können, welche publizistische Wirkung die Kanzlerinnen-Briefings entfalteten und ob durch diese Wirkung tatsächlich «Druck auf die Bundesländer» ausgeübt werden konnte, wäre es unabdingbar, zu wissen, welche Medien zu diesen Hintergrundveranstaltungen eingeladen wurden und welche Journalisten dort anwesend waren.

Wer war da? Wer wurde warum eingeladen?

Um einzuschätzen, ob die Auswahl der Medienvertreter «meinungsneutral und sachgerecht» erfolgte, so die Anforderung des Wissenschaftlichen Dienstes, oder ob man kritische Journalisten lieber nicht dabeihaben wollte, müsste man wissen, nach welchen Kriterien die Auswahl stattfand.

Die NZZ, die, wie viele andere deutschsprachige Medien, zu keiner der geschlossenen Runden eingeladen war, hat das Bundespresseamt gefragt, wie viele Treffen dieser Art es gegeben hat, wann sie stattfanden, wer eingeladen war, wer die Auswahl dafür traf und nach welchen Kriterien diese Auswahl getroffen wurde.

Ein Sprecher des Bundespresseamts antwortete auf diese Fragen so: «Regierungssprecherinnen und Regierungssprecher informieren im Rahmen des verfassungsmässigen Informationsauftrags regelmässig Journalistinnen und Journalisten in einer Vielzahl von Formaten über die Politik der Bundesregierung. Dies findet u. a. in Präsenz, telefonisch oder auch online statt. Die Inhalte und organisatorischen Einzelheiten werden weder dokumentiert noch statistisch erfasst.»

Neutralität und Sachlichkeit

Das ist – für jeden Leser leicht erkennbar – keine Antwort auf die Fragen der NZZ. Kalender werden offenbar nicht geführt oder sind geheim. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages räumt in seinem Gutachten zwar ein, dass «öffentliche Stellen nicht verpflichtet sind, Umstände oder Inhalte der Gespräche im Einzelnen zu dokumentieren».

Allerdings könne es durchaus im Interesse der öffentlichen Stellen sein, «Teilnehmer und Themen der Gespräche zur Darlegung der Wahrung des Neutralitätsgebots und des Gebots der Sachlichkeit zu dokumentieren».

Womöglich kann sich die damalige Regierung nicht wirklich sicher sein, ob sie Neutralität und Sachlichkeit bei der Zusammenstellung ihrer Corona-Runden tatsächlich behaupten könnte. Nach NZZ-Informationen waren beispielsweise nicht ausschliesslich Wissenschaftsjournalisten eingeladen – was ja ein Auswahlkriterium hätte sein können. Vielleicht soll der Eindruck vermieden werden, es sei hier um «Reglementierung oder Steuerung» der Berichterstattung gegangen.

Das Stillstellen einer Gesellschaft

Auf die Nachfrage der NZZ, ob eine selektive Information der Presse zu Corona-Themen unter der Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz weiterhin stattfinde, antwortet das Bundespresseamt: «Soweit wir es nachvollziehen können, hat es in der aktuellen Legislaturperiode vor ‹Bund-Länder-Corona-Schalten› keine Treffen von Regierungssprechern mit Journalisten gegeben.»

Allerdings geht es inzwischen ja auch nicht mehr um das Stillstellen einer ganzen Gesellschaft durch Lockdowns, Ausgangssperren, Schul- und Betriebsschliessungen. Sondern eher um den Rückweg des Landes in eine Normalität, die andere europäische Länder sehr viel früher erreicht haben. Darüber gibt es kaum noch politischen Streit.

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