Manchmal denke ich, wie toll es gewesen wäre, wenn es in den Achtzigerjahren schon Handys gegeben hätte. Aber meistens bin ich heilfroh, dass es nicht so war.
Meine drei Kinder berichten meiner Frau und mir gelegentlich Episoden aus ihrem Leben. Ich finde das gut und sogar von Jahr zu Jahr besser. Zum einen, weil ich mir einrede, dass es auf ein halbwegs intaktes Familienverhältnis hindeutet, denn unsere Kinder sind volljährig und weder rechtlich noch moralisch verpflichtet, Details aus ihrem privaten Umfeld mit den Eltern zu teilen. Zum anderen und vor allem aber, weil die Erlebnisse Anfang Zwanzigjähriger einen höheren Nachrichten- und Unterhaltungswert haben als die von Fünfjährigen – obwohl sie meist weniger aufgeregt vorgetragen werden.
Vor einiger Zeit erzählte eines meiner Kinder eine Geschichte, die im weitesten Sinn mit Ausbildung zu tun hatte und in der sich eine Person am Ende in einer peinlichen Lage befand. Details kann und möchte ich aus rechtlichen und moralischen Gründen nicht nennen. Ich erwähne es nur deshalb, weil ich ein Gefühl teilen möchte, das ich immer habe, wenn ich solche Schilderungen höre: Ich bin so dermaßenwahnsinnigfroh, dass es keine Smartphones gab, als ich Anfang zwanzig war, in Göttingen studierte und Mitglied einer schlagenden Verbindung war.
Die Narbe an meinem Kinn
An interessanten Ereignissen, an deren Ende sich eine Person in einer peinlichen Lage befand, herrschte nämlich auch damals kein Mangel. Manchmal waren sogar mehrere Personen betroffen und die peinliche Lage trat nicht erst am Ende des Ereignisses ein. Zum Glück hatten damals jedoch nicht alle zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Gerät dabei, um digitale Bild- oder Tonaufzeichnungen zu verfertigen und zu teilen.
Ich habe zum Beispiel eine kleine Narbe am Kinn, die ich mir bei einem Mensurtag zugezogen habe. Allerdings nicht durch den Hieb eines Kontrahenten, was unter Korporierten als durchaus ehrenvoll gilt, sondern weil ich aus der Nähe sehen wollte, wie ein Kommilitone genäht wurde. Dabei bin ich offenbar ohnmächtig geworden und mit dem Kinn auf eine Stuhlkante geknallt. Ich kann mich nicht erinnern, es wurde mir aber glaubhaft beschrieben. Unaufgefordert, detailreich und mehrfach. Das ist aus vielen Gründen schon peinlich, wenn man es erzählt, aber es würde nicht besser, wenn es davon Fotos gäbe. Oder ein Video. Ein GIF.
Noch schlimmer, vielleicht sogar gefährlich, könnte es sein, wenn es – rein hypothetisch – Videoaufzeichnungen davon gäbe, wie ich zusammen mit anderen Burschenschaftern fackeltragend den Berg zum Heidelberger Schloss hinaufmarschiere. Wie ich dort im Festsaal auf einem Tisch stehe, schwarzrotgoldene Straußenfedern auf dem Kopf, einen Schläger in die Luft strecke und das Deutschlandlied singe. Möglicherweise alle drei Strophen. Das könnte aus dem Kontext gerissen einen seltsamen Eindruck von mir vermitteln, wenn man es heute sähe. Wahrscheinlich selbst dann, wenn man es nicht aus dem Kontext risse.
Was würden die Menschen aus meinem nicht besonders großen Freundeskreis zu einem solchen Video sagen? Was würden meine Vorgesetzten denken? Meine Kolleginnen und Kollegen? Manche würden sich vielleicht freuen, weil man nie wissen kann, ob man so was nicht noch mal braucht. Manche würden sich vielleicht freuen, weil beim SPIEGEL Diversität fast genauso großgeschrieben wird wie »Sagen, was ist«. Wir hatten neulich sogar einen Workshop dazu. Und natürlich ist uns die Vielfalt der Menschen, die den SPIEGEL machen, extrem wichtig.
Der Workshop hat das Thema diverse Personalentwicklung dann allerdings ausgeklammert, deshalb weiß ich nicht genau, wie weit wir bei diesem wichtigen Ziel mittlerweile gekommen sind. Aber mein Verdacht ist, dass es mehr deutsche Journalisten gibt, die in den Achtzigerjahren bei Demonstrationen irgendwelche Parolen gegen Helmut Kohl skandiert haben, als solche, die wie ich ein Verbindungshaus gegen mögliche Attacken des Schwarzen Blocks verteidigen sollten.
Ich möchte nicht gleichgesinnt sein
Heute würde ich sagen, dass das eher eine gute Nachricht ist. Denn junge Menschen, die sich politisch engagieren, die auf die Straße gehen für ihre Überzeugungen, verdienen Respekt. Egal, ob es wie heute um Frieden, Gleichberechtigung und Klima geht oder wie vor vierzig Jahren um Frieden, Gleichberechtigung und Atomkraft. Und vermutlich bringen Menschen, die sich als Zwanzigjährige gegen Ungerechtigkeiten empören, mehr von dem mit, was man später im Journalismus brauchen kann, als Gleichaltrige, die einen Großteil des Studiums mit Menschen zweifelhafter politischer Gesinnung im Kneipsaal oder auf dem Paukboden verbringen. Heute sehe ich das so. Damals war ich mehr mit mir selbst beschäftigt als mit Innen- oder Außenpolitik. Doppelkopf und Biertrinken schienen mir ein sinnvolles und erfüllendes Lebenskonzept.
Irgendwann nach dem Examen bin ich aus meiner Verbindung ausgetreten, aus verschiedenen Gründen. Statt Jurist bin ich Journalist geworden. Zuerst bei Capital, mittlerweile beim SPIEGEL. Sollte sich diese Entwicklung linear fortsetzen, werde ich wahrscheinlich in zehn Jahren Flugblätter für Marxistengruppen verfassen – für ein horrendes Gehalt. Mit Männerbünden bin ich jedenfalls durch. Ich glaube sogar mit allen Vereinen und sonstigen Gruppierungen Gleichgesinnter. Ich möchte nicht gleichgesinnt sein.
Menschen können sich ändern. Oft tun sie es zu spät, meist zu wenig und manchmal in die falsche Richtung, aber sie können sich ändern. Es ist gefährlich, sie anhand von Handyvideos aus ihrer Jugend zu beurteilen. Vielleicht könnte in dreißig Jahren irgendwo in Deutschland eine sympathische, nette Frau mittleren Alters ihre Kolleginnen und Kollegen mit der Geschichte überraschen, wie sie als Zwanzigjährige einen sehr peinlichen öffentlichen Auftritt hatte. Vielleicht würde man über ihre Geschichte ungläubig lachen, weil sie so gar nicht zu ihr passt. Weil sie doch eigentlich ganz anders ist. Vielleicht. Aber vielleicht hat man keine Chance, sich zu ändern, wenn man Jana aus Kassel ist. Und man muss die Geschichte auch niemandem erzählen – weil sie ohnehin jeder kennt, wenn das Video nur einen Klick entfernt ist.
Ich bereue die Zeit in der Studentenverbindung übrigens nicht; ich habe dort neben anderen auch viele sehr nette Menschen kennengelernt, aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus. Fast nur Männer, kaum jemand mit Migrationshintergrund, aber auf ihre Art irgendwie auch divers. Und ich habe Erlebnisse in meiner mentalen Timeline gespeichert, die ich im Rückblick zwar als eigenartig bezeichnen würde, die sich aber gut erzählen lassen. Doch wie gesagt: Ich bin froh, dass es damals keine Smartphones gab. Dermaßenwahnsinnigfroh.