Gendern ist ein Reizthema. Während der öffentlich-rechtliche Rundfunk es forciert, haben manche Bundesländer ein Verbot in den Schulen und Verwaltungen angekündigt oder bereits durchgesetzt. Sozialforscher Andreas Herteux bespricht das Gendern aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive.
Ist der Trend zum Gendern eine natürliche Veränderung der Sprache?
Vorab sollte abgeklärt werden, wovon überhaupt gesprochen wird. Bereits eine Formulierung wie „Studentinnen und Studenten“ ist eine Möglichkeit des Genderns, an der sich wohl niemand ernsthaft stören wird. Gegenstand der momentanen Debatte sind daher eher Elemente wie das Binnen-I, (StudentInnen), Gender-Gap (Student_Innen) sowie die Sternchen und Doppelpunktlösungen (z.B. Student:innen).
Bei diesen, teilweise auch gesprochenen, Varianten kommt es am Ende auf die Eigenperspektive an, ob es sich um eine selbstverständliche Anpassung der Sprache handelt oder nicht. Wenn wir die Gesellschaft als Ansammlung von unterschiedlichsten Lebenswirklichkeiten betrachten, die nebeneinander existieren und jeweils ihre eigenen Wertvorstellungen, Handlungsmuster und Normen haben, dann ist es für einige dieser Milieus eine solche Progressivität, die von der restlichen Bevölkerung schlicht noch nicht ausreichend erfasst wurde.
Besagte Lebenswirklichkeiten stellen aber nur eine Minderheit der Bevölkerung dar. Für die große Mehrheit, die allerdings keineswegs eine homogene Masse bildet, ist das Gendern, wir reden in der Folge nur von den oben genannten Sonderformen, bislang ein künstliches Produkt, das in Umfragen überwiegend auf große Ablehnung stößt.
Über den Experten Andreas Herteux
Andreas Herteux
Andreas Herteux ist ein deutscher Wirtschafts- und Sozialforscher, Publizist und der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft. Herteux ist zugleich Herausgeber und Co-Autor des Standardwerks über die Geschichte der Freien Wähler (FW). Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Wie konnte das Gendern ein so großes Thema werden?
Die angesprochenen Lebenswirklichkeiten stellen zwar keine Mehrheit, gelten aber teilweise als Leitmilieus und verfügen in bestimmten Fällen auch über den Willen und auch die Möglichkeiten, die Gesellschaft in ihrem Sinne zu verändern. Besonders das postmaterielle Umfeld, das ca. 12% der Bevölkerung stellt, ist an dieser Stelle federführend und hat es geschafft, vieler ihrer Themen in die Diskussion zu bringen.
Dieses Milieu sieht sich selbst als gesellschaftliches Korrektiv, steht für Nachhaltigkeit, Diskriminierungsfreiheit, Postwachstum, Wokeness, Selbstentfaltung sowie Diversität, gilt als hochgebildet und lebt tendenziell eher in der Stadt als auf dem Land. Identitätspolitik ist ein zentrales Thema.
Als wichtigen Prägungspunkt könnte man an dieser Stelle die Universitäten betrachten. Viele der genannten Themen sind in nicht wenigen Fachbereichen gelebte Normalität. Selbstverständlichkeiten, die nicht mehr hinterfragt werden, weil sie als Teil der ureigenen DNA verstanden werden.
Aus den Hochschulen sickerten derartige Überzeugungen, mit den Absolventen, Stück für Stück in andere Bereiche der Gesellschaft ein. Inzwischen gibt es neben dem postmateriellen Milieu, das im Durchschnitt eher nicht mehr jugendlich ist, ein neues neo-ökologisches Milieu (ca. 8% der Bevölkerung), das diese Inhalte auch in sich verankert hat. Noch vor 10 Jahren hatte niemand eine solche Lebenswirklichkeit identifiziert, aber das Wachstum hat sich durch manche Bildungsreform beschleunigt.
An der Stelle sei auch angemerkt, dass im Moment ca. 55% eines Geburtsjahrgangs studieren, 2006 waren es ca. 36%. In der Regel ist die positive Haltung zum Gendern, um auf das konkrete Thema zurückzukommen, bei jüngeren Jahrgängen daher auch stärker ausgeprägt als bei den älteren. Bei den Menschen unter 30 Jahren beträgt die Zustimmung in vielen Umfragen bereits um die 40%.
Postmaterielle Ideen sind so mit den Jahren durch die Absolventen in viele Schaltstellen des Landes hineingewachsen und besitzen daher einen Einfluss, der deutlich größer ist als der personelle Anteil der stützenden Milieus an der Bevölkerung. Sie hatten es, ganz neutral betrachtet, lange Zeit auch relativ einfach, die eigenen Themen zu platzieren und voranzutreiben.
Viele weitere stehen bereits in den Startlöchern. Typische Beispiele hierfür sind die Diskussionen um den globalen Süden, Postkolonialismus, differenzierte Identitätspolitik, Klimaangst oder Dekonstruktionen aller Art.
Die genannten Elemente haben dabei eine Gemeinsamkeit. Sie werden stets als „Weltprobleme“ betrachtet, die alle Menschen überall betreffen. Die Perspektive ist global, die Herausforderung damit von der Dringlichkeit als auch von der Moral übergeordnet. Eine davon ist die Geschlechtergerechtigkeit. Eine Ausprägung des Themas das Gendern in der deutschen Sprache.
Macht ein Genderverbot Sinn?
Verbote sind immer ein schwieriger Weg und sollten gut bedacht sowie begründet werden. Ein wohlüberlegter Kompromiss, ein demokratischer Konsens, der möglichst viele Bedürfnisse erfasst und zudem für Mindermeinungen einen rechtssicheren Rahmen bietet, wäre immer besser, aber einen solchen zu erreichen, erscheint, betrachtet man die Entwicklung, leider sehr schwierig.
Die intellektuelle Dominanz weniger Lebenswirklichkeiten mit hohem Sendungsbewusstsein, die man sich auch erst einmal hart erarbeiten musste, hat am Ende dazu geführt, dass die Bedürfnisse anderer Milieus, die den deutlich größeren Teil der Gesellschaft ausmachen, aber keinesfalls homogen sind, spätestens seit Beginn der 2010er Jahr ignoriert und marginalisiert wurden. Das erzeugte Milieukonflikte, die sich nun in Milieukämpfen äußern. Oder einfacher ausgedrückt, sind die Fronten teilweise so verhärtet, dass der Ausgleich der Interessen oft fast nicht mehr möglich ist.
Dennoch sollte man an dieser Stelle nicht dem Denkfehler unterliegen und die Verantwortung dafür nur den sendungsbewussten postmateriellen Kräften zuschieben. Eine demokratische Gesellschaft lebt von der Balance, vom konstruktiven Streit. Liberalismus und Konservatismus, um nur zwei mögliche Gegengewichte zu nennen, bieten aber im 21. Jahrhundert keine großen Erzählungen und hatten irgendwann schlicht nichts mehr entgegenzusetzen.
Das Aufstiegsversprechen durch Leistung und Wille? Sicherheit im Gewohnten? Die Garantie der Freiheit? Soziale Gerechtigkeit? Es gibt kaum mehr verlässliche Narrative. Wie mit den Herausforderungen unserer Zeit umgehen? Was ist mit der Macht der digitalen Welt? Wie auf veränderte globale Verhältnisse reagieren? Wie auf gesellschaftliche Veränderungen? Bestenfalls gibt es Reaktionen, auf jenes, das bereits geschehen, ist, aber nicht auf das, was unausweichlich kommen wird. Keine Leitbilder, keine Visionen einer gemeinsamen Zukunft. Ein intellektueller Bankrott, der zu einen Ungleichgewicht führte. Eine geistige Leere, die lediglich die Ränder stärkte. Eine Bequemlichkeit, weil man sich am Ende der Geschichte wähnte.
Letztendlich werden es daher wohl auch nur sich entladende Milieukonflikte sein, welche die Vormachtstellung des Postmateriellen beenden werden und nicht der Erfolg im Wettstreit der besseren Ideen. Politischer Darwinismus, kein Konsens. Ohne das Ringen ist aber eine Gesellschaft der Emotionen und Konflikte die Folge, in der jedes Thema, und hier wären wir wieder beim Gendern, eine Aufladung erfährt, der eine Kompromiss praktisch unmöglich macht.
Wie könnte ein solcher demokratischer Kompromiss beim Gendern aussehen?
Durch eine Abwägung der Interessen, eine Abgrenzung von den Rädern und, falls ein Kompromiss nicht möglich ist, eine Entscheidung für das größte Wohl für möglichst viele Menschen, ohne dabei jedoch Minderheiten zu diskriminieren oder ihnen grundsätzliche Rechte zu verweigern – und zwar, man muss die Realitäten zur Kenntnis nehmen, im dem Rahmen, den unsere freiheitlich-demokratische Ordnung vorgibt und die lässt eine globale Perspektive nur eingeschränkt zu.
Das kann auch Verbote beinhalten, wobei hier natürlich primär von der Schriftsprache staatlichen Stellen wie Behörden, Schulen oder Universitäten reden. Was jemand privat präferiert, darf kein Gegenstand staatlicher Intervention sein.
Wie könnte das beim Thema Gendern, auch hier sprechen wir nur von den umstrittenen Sonderformen, aussehen? Eine solche gesamtgesellschaftliche Argumentationskette könnte folgendermaßen aufgebaut werden:
Viele Studien deuten darauf hin, dass die deutsche Sprache bereits Teile ihre Primärfunktion als Kommunikationsmittel über die Milieus mehr und mehr verliert. Oder einfacher ausgedrückt, die Bildungsstudien messen ein absinkendes Niveau in der Anwendung des Deutschen und der Umfang des Wortschatzes sinkt – beinahe kann man schon von einem „Rudimentärdeutsch“ sprechen. Dafür gibt es viele Gründe, die aber hier nicht Thema sein sollen.
Die Sprache, die man verändern will, ist in vielen Lebenswirklichkeiten gar nicht mehr in einem abwandelbaren Umfang vorhanden. Die Basis fehlt häufig sowohl in der mündlichen als auch die schriftlichen Kommunikation. Das betrifft viele Milieus und so wird aus einer Idee, die bestimmte Gruppen und deren Schicksale sowie Einstellungen sichtbar machen wollte, unter Umständen ein soziales und entmutigendes Stigmata für ganze Schichten, das man dann nicht nur lesen, sondern auch hören, man denke an Teile des Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunks, kann.
Sprache sollte aber identitätsstiftend und vereinend sein. Das ist ein wesentlicher Faktor des gesellschaftlichen Miteinanders, das immer mehr schwindet. Auf der anderen Seite ist die Ablehnung der gendergerechten Sprache in Deutschland seit 2020 gestiegen und nicht etwa gesunken. In manchen Umfragen sind es bis zu 80%.
Erweitert man den Gedanken noch und berücksichtigt die „Jahrhundertaufgabe“ Migration werden die Probleme noch deutlicher. Die deutsche Sprache ist bereits komplex genug und die Integrationsleistungen, die erbracht werden müssten, sind gigantisch – warum hier den Rucksack noch weiter mit Steinen füllen? Wie soll Deutschland zudem für Fachkräfte attraktiv werden, wenn die Sprachbarrieren immer weiter anwachsen? Welches Aufstiegsversprechen soll noch gelten, wenn die Barriere schmerzlich an der Sprache gefühlt werden kann? Was ist wichtiger und welche Aufgabe darf in einer Zeit der Veränderung Priorität haben?
Das ist aber nur eine mögliche Argumentationskette. Keine Meinung, nur eine Variante. Es sind viele, mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, denkbar, allerdings wiegen die vorgebrachten Einwände auch bei einer globalen Perspektive schwer. Man muss daher den Diskurs nur ohne den Ballast der Emotionen wagen und den entsprechenden Mut zur sachliche Auseinandersetzung aufbringen.
Ein gesamtgesellschaftlicher Blickwinkel sowie ein konstruktiver Pragmatismus könnte am Ende wohl in einem Konsens enden, in dem das Wohl vieler Menschen gewahrt bleibt sowie Priorität genießt, Partikularinteressen aber angemessen berücksichtigt, wenngleich nicht über die Interessen der Mehrheit stellt.
Das mag nicht jedem gefallen und für manche Zeitgenossen eine Zumutung sein. Es ist aber das Wesen der Demokratie abzuwägen und die Balance sowie den Kompromiss zu finden. Es ist der Kern unseres Zusammenlebens, der nicht verloren gehen darf.
Dieser Text stammt von einem Expert aus dem FOCUS online EXPERTS Circle. Unsere Experts verfügen über hohes Fachwissen in ihrem Themenbereich und sind nicht Teil der Redaktion. Mehr erfahren.