Unter Trump galt Angela Merkel vielen als Anführerin der Freien Welt. Dieser Titel ist eine Nummer zu groß für sie. Vor allem, weil ihre Instinkte außenpolitisch immer wieder versagen. Beim Treffen mit Joe Biden werden beide deshalb wieder in ihre alten Rollen zurückkehren.
Nach George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump macht Angela Merkel am Donnerstag dem vierten US-Präsidenten einen Antrittsbesuch. Westliche Demokratien pflegen normalerweise ihre Spitzenpolitiker schnell zu verschleißen. Vielen auf der internationalen Bühne kommt es jedoch inzwischen so vor, als sei Merkel selbstverständlicher Teil des Inventars der globalen Politik – über die Jahre vielleicht etwas abgewetzt, aber irgendwie schon immer dagewesen.
In den Trump-Jahren war Merkel gar zu einer Art Ikone der US-Linken geworden, manche riefen sie damals aus zur wahren Anführerin der Freien Welt. Das war mehr getragen von der Gegnerschaft zu Trump als von einer realistischen Einschätzung der deutschen Kanzlerin. Der wird zwar gemeinhin nachgesagt, die richtigen Instinkte zu haben, wenn es um Freiheit und Demokratie geht – so hat sie früher als andere verstanden, dass Russland unter Wladimir Putin auf dem Weg zu Autokratie war. Doch gerade zwei aktuelle Streitthemen machen deutlich, dass Merkel, die von Barack Obama einst die Freiheitsmedaille des US-Kongresses verliehen bekam, nicht immer eine Vorkämpferin der Freiheit ist. Im Gegenteil: ihre Instinkte versagen bei diesem Thema teilweise auf spektakuläre Weise.
Am deutlichsten wird das in der Haltung der Kanzlerin zu Nord Stream II und zur Ukraine. Einerseits geben die Deutschen Russland mit der Pipeline ein Erpressungsinstrument gegen die Ukraine in die Hand – ein großer strategischer Sieg für Moskau. Andererseits weigert Berlin sich weiterhin, der Ukraine Rüstungsgüter zu verkaufen, um sich gegen die russischen Angriffe auf ukrainisches Territorium zu wehren. Das sind nicht die Handlungen einer Anführerin der freien Welt, es offenbart vielmehr einen eklatanten Mangel an strategischer Weitsicht. Und es ist gleichzeitig ein peinliches moralisches Versagen, dass das mächtigste Land Europa der jungen und von Moskau bedrängten Demokratie weiterhin nicht helfen will, sich selbst zu verteidigen.
Auch die China-Politik Berlins ist alles andere als wertegeleitet. Überall im Westen ist man sich bewusst, dass China nicht nur zur neuen Gefahr aufgestiegen ist, sondern sich selbst auch in entschiedener Systemkonkurrenz zum Westen positioniert. Joe Biden will deshalb die Widerstandskräfte des Westens bündeln und zu einer gemeinsamen Haltung gegenüber Peking finden. Deutschland hingegen fällt nichts Besseres ein, als das umstrittene Investitionsabkommen mit China durch die EU-Gremien zu peitschen und sich auch nicht vom kulturellen Völkermord an den Uiguren beirren zu lassen.
Der Titel „Anführerin der freien Welt“ war schon immer zu groß für Merkel und war eher Ausdruck des Führungsvakuums, das Amerika unter Trump hinterlassen hatte. Wenn die Kanzlerin nun am Donnerstag auf Biden trifft, dürften beide Seiten froh sein, wieder in ihre alten Rollen zurückzukehren. Biden positioniert Amerika erneut als Führungsmacht im Westen und will eine Allianz der Demokratien schmieden, um den seit anderthalb Jahrzehnten anhaltenden Rückzug der Freiheit auf der Welt zu stoppen. Und Deutschland muss nicht länger mit überzogenen Erwartungen an seine Führungsstärke leben. Kurz vor dem Abschied aus dem Amt ist Merkel damit wieder auf Normalmaß geschrumpft.