Die Pandemie hat zu einer schweren Wirtschaftskrise auf der Insel geführt. Die Unzufriedenen haben ihre Angst vor dem Regime verloren.
Solche Bilder hat man in Kuba seit Jahrzehnten nicht gesehen: Zu Tausenden gingen Kubaner am Sonntag in mehr als einem Dutzend Städten auf die Strasse und protestierten gegen Mangelwirtschaft und politische Unterdrückung.
Bei Protesten in der Vergangenheit hatte es sich jeweils um kleine, organisierte Gruppen von Künstlern oder Menschenrechtsaktivisten gehandelt, die vom Regime mit vergleichsweise kleinen Polizeieinsätzen und Verhaftungen unter Kontrolle gebracht werden konnten. Am Sonntagmorgen jedoch begannen die Demonstrationen offenbar mehr oder weniger spontan in der westkubanischen Stadt San Antonio de los Baños, wonach der Funke über die sozialen Netzwerke in die übrigen Städte sprang.
Nachdem das Internet lange für den Durchschnittskubaner gesperrt gewesen war, haben inzwischen viele Zugang via Smartphone. Erst am Abend gewann das Regime die Kontrolle über die Strassen zurück, nachdem Präsident Miguel Díaz-Canel in einer Rede die Unterstützer des Regimes aufgefordert hatte, in die betroffenen Strassen zu kommen und die Demonstrationen zu bekämpfen.
In einer zweiten Rede am Montag erklärte der Präsident den Sonntag zum historischen Tag für die Verteidigung der kubanischen Revolution. Doch auch am Montag gab es weitere Demonstrationen, und dass die Herausforderung für das Regime bereits überwunden ist, dürfte ein Wunschtraum sein. Ein Teil der Bürger hat offensichtlich die Angst vor Repression überwunden und ist bereit, seine Unzufriedenheit mit dem Regime öffentlich zu zeigen. Dies dürften auch die über hundert Verhaftungen und die Einschränkung des Zugangs zum Internet durch die Regierung nicht ändern, solange Díaz-Canel nicht zu einer Repressionswelle à la Venezuela Zuflucht nimmt.
Es gibt ein gewichtiges Argument dafür, dass der Widerstand sich nicht so rasch abschwächen dürfte. Dieser hat sich an der miserablen wirtschaftlichen Lage entzündet; Auslöser waren die Mangelversorgung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Spitalbetten sowie die häufigen Stromausfälle. Die Rufe nach dem Rücktritt des Präsidenten und nach demokratischen Wahlen waren die logische Folge der Unfähigkeit der Regierung, die Grundbedürfnisse der Bürger zu decken. Laut Beobachtern kamen die Demonstranten in Havanna überwiegend aus den ärmeren Quartieren, die von der Krise besonders hart getroffen werden – also genau die Menschen, deren Interessen die kommunistische Diktatur zu verteidigen vorgibt.
Die Ursache der Unzufriedenheit wird nicht so rasch verschwinden. Während es in Kuba immer Versorgungsschwierigkeiten gab, ist die rasante Verschlechterung der letzten zwölf Monate zu einem grossen Teil eine Folge der Corona-Pandemie. Der Tourismus, zusammen mit den Auslandüberweisungen der wichtigste Devisenbringer, ist fast völlig zusammengebrochen. Der Flughafen von Havanna war während acht Monaten geschlossen. Das Bruttoinlandprodukt brach 2020 um 11 Prozent ein. De facto ist das Regime wohl nahe am Bankrott und kann die notwendigen Importe von Lebensmitteln und Medikamenten nicht mehr finanzieren (diese sind, im Gegensatz zu den Behauptungen von Díaz-Canel, von den amerikanischen Sanktionen ausgenommen).
Verschärft hat sich die finanzielle Situation des Regimes zusätzlich durch die Erschwerung von privaten Überweisungen aus dem Ausland durch die Regierung Trump und das Ende der generösen Erdölimporte aus Venezuela. Bei allen drei Devisenquellen ist keine rasche Besserung in Sicht. Bei Covid-19 scheint die Insel das Schlimmste sogar noch vor sich zu haben.
Dennoch wankt das Regime noch nicht in seinen Grundfesten. Es fehlt den Demonstranten an Organisation. Sie sind ein Ärgernis und ein PR-Desaster für das Regime, aber noch keine tödliche Bedrohung. Steht das Überleben der kommunistischen Herrschaft einmal wirklich auf dem Spiel, hat Díaz-Canel mit Polizei, Geheimdienst und Armee starke Waffen gegen einen Aufstand der Unzufriedenen. Der Fall der Diktatur ist noch nicht absehbar, aber in Zukunft ist mit vermehrter Unruhe in Kuba zu rechnen.