Der andere Blick

In der Pandemie sitzt die Moralkeule locker. Wer die Regierungspolitik ablehnt, bekommt sie schnell zu spüren

30.05.2021
Lesedauer: 6 Minuten
Protest von Eltern gegen die erneute Schulschliessung in einigen sächsischen Landkreisen. Imago

Es ist leicht, eine Meinung zu haben, aber mühsam, sich mit Fakten auseinanderzusetzen. Wer zu Beginn der Corona-Krise dafür plädierte, nicht nur auf die Ansteckungszahlen zu starren, sondern genauso wirtschaftliche oder psychosoziale Faktoren zu berücksichtigen, der sah sich rasch mit einem ungeheuerlichen Vorwurf konfrontiert. Er sei schuld am Tod von Menschen, weil er dem Leichtsinn das Wort rede.

Durch moralische Disqualifikation sollten die Kritiker der Regierungspolitik zum Schweigen gebracht werden. Ein Jahr später kann man das billige Argument gegen seine Urheber wenden. Deutschland und die Schweiz haben bei der Impfkampagne bisher keine gute Figur gemacht, selbst Länder wie Serbien sind schneller.

Die Retourkutsche ist also einfach: Gesundheitsminister Jens Spahn und Bundesrat Alain Berset sind schuld am Tod von vielen Menschen, die sich bei einer professionelleren Beschaffungsaktion nicht angesteckt hätten.

Doch ist die eine wie die andere Behauptung unsinnig. Weder die Gegner einer Selbstermächtigung des Staates im Namen der Gesundheit noch die zuständigen Minister in Berlin und Bern wollen Menschen schaden. Im Gegenteil, sie alle sind davon überzeugt, für die bestmögliche Politik einzutreten.

Plötzlich geht es um Gut und Böse

Die Fakten allerdings sind komplex, sie lassen sich auf die eine wie die andere Weise interpretieren. Gewissheit, das Beste nicht nur zu wollen, sondern es auch zu tun, gibt es in der Pandemie nicht. Es ist wie in einer griechischen Tragödie: Gleichgültig, welche Entscheidung man trifft, sie hat unkalkulierbare und potenziell fatale Nebenfolgen.

In diesem Zwielicht bietet eine klare Meinung Halt. Wer von vorneherein weiss, was richtig ist, muss sich nicht mit widersprüchlichen Details auseinandersetzen. Was eine sachliche Diskussion über die bei einer neuartigen Krankheit naturgemäss unsichere Faktenlage sein müsste, wird so moralisch aufgeladen. Plötzlich geht es nicht mehr um Hypothesen, die sich als unrichtig herausstellen können, sondern um Gut und Böse und ewige Wahrheiten.

Es ist ein simpler Taschenspielertrick. Statt über die Ausbreitung von Aerosolen im Freien und in geschlossenen Räumen streiten zu müssen, kann man alle Kritiker moralisch ins Abseits stellen, die den Lauterbach-Test nicht bestehen, die also nicht allen alles und dies möglichst lange verbieten möchten.

Ralph Brinkhaus, der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, beherrscht den Trick perfekt. Er verteidigte die «Bundesnotbremse» mit den Worten: «Dieses Gesetz ist ein Gesetz fürs Leben. Wenn es keine Notstandsregeln geben wird, dann werden Menschen krank und sterben.» Wer die Ausgangssperre ablehnt, nimmt menschliches Leid billigend in Kauf.

Die Behauptung der Kanzlerin, ihre Politik zur Rettung des Euro sei «alternativlos», wird so ins Zynische gesteigert. Wer an der Weisheit von Angela Merkel und Ralph Brinkhaus zweifelt, ist böse und leistet der Seuche Vorschub. Gegen eine solche Moralkeule lässt sich rational nicht argumentieren.

Corona ist weder rechts noch links

Eine subtilere Variante der Keule schwingt das ZDF-Magazin «Frontal 21». In einem Beitrag über die Parlamentsdebatte zur «Bundesnotbremse» porträtierte es einen jungen Familienvater, der zwar Covid-19 überlebt hat, aber seither unter schwersten Langzeitfolgen leidet. Die Botschaft war unüberhörbar: Die Opposition handelt leichtsinnig und macht sich so schuldig.

Niemand möchte, dass ein Familienvater keine Treppen erklimmen kann, weil der Grossteil seiner Lunge geschädigt ist. Also ist die Zustimmung zum Infektionsschutzgesetz Pflicht. Und die, die wie der FDP-Vorsitzende Christian Lindner vor den verfassungsrechtlichen Risiken des Gesetzes warnen, sind böse. Für die Begriffsstutzigen unter seinen Zuschauern fuhr das ZDF noch einen Arzt auf, der sein Unverständnis bekundete, weshalb Lindner ständig mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufe.

Es wäre unfair, zu behaupten, die Befürworter weitreichender Zwangsmassnahmen würden den Mangel an Argumenten durch die saloppe Verwendung der Moralkeule kompensieren. Sie können sich wie ihre Gegner auf Fakten berufen. Doch die Debatte darüber ist mühsam, und so erscheint eine intellektuelle Abkürzung manchmal verlockend.

Die platteste Form der Abkürzung ist der Versuch, jede Kritik an der offiziellen Corona-Politik als rechts, rechtsradikal oder mindestens schwer verwirrt abzutun. Gewiss, die AfD lehnt die Einschränkungen vehement ab. Auch laufen bei den Demonstrationen gegen die Zwangsmassnahmen Reichsbürger und Rechtsradikale mit. Aber längst nicht alle Demonstranten sind rechtsradikal. Gegen die «Bundesnotbremse» macht nicht nur die AfD Front, sondern ebenso die Linkspartei.

Die breite Ablehnung des Infektionsschutzgesetzes zeigt, wie unsinnig es ist, die Auseinandersetzung um die Seuchenpolitik in ein Rechts-links-Schema zu pressen. Aber die Prämie für solch kurzschlüssiges Denken wirkt verführerisch: Linke sind für das Leben, Rechte für den Tod.

Um jemand zu diskreditieren, gibt es in Deutschland kein probateres Mittel als den Vorwurf, er sei rechts. Unter diesem Etikett lassen sich konservative CDU-Vertreter wie der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maassen ebenso subsumieren wie sämtliche Spielarten von Corona-Leugnern, Querdenkern, Verschwörungstheoretikern und Aluhüten.

Die Kategorien sind herrlich unpräzis, so dass sie im Zweifelsfall auf alle passen, die einem nicht passen. Wie lautete die Devise in Hollywoods Westernfilmen? «Kill them all and let God sort them out.» Es geht längst nicht mehr um die besten Lösungen in der Pandemie. Das Ziel ist die Vernichtung des Gegners – natürlich nicht physisch, wohl aber reputationsmässig.

An Päpsten und Päpstinnen herrscht kein Mangel

Wissenschaftliche Erkenntnisse sind ihrer Natur nach keine ewigen Wahrheiten, sondern nur bis zu ihrer Widerlegung gültige vorläufige Aussagen. Sie lassen sich auch nicht in Gut und Böse einteilen. Moralisch qualifiziert werden können nur die politischen Schlussfolgerungen, die aus ihnen gezogen werden.

Kein Wissenschafter, kein Politiker, aber auch kein Mitglied der allzeit schussbereiten Twitter-Gemeinde sollte einen Unfehlbarkeitsanspruch erheben. Wer wie der Corona-Papst Christian Drosten mit manchem seiner Auftritte dennoch den Eindruck erweckt, er halte sich für unfehlbar, droht im Shitstorm umzukommen.

Der Cocktail aus scheinbarer wissenschaftlicher Objektivität und moralischer Überlegenheit dürfte in der Klimadebatte erneut serviert werden. Die Erderwärmung ist wie die globale Pandemie buchstäblich eine Überlebensfrage. An Päpsten wie Päpstinnen herrscht ebenfalls kein Mangel. Auch die Wortwahl ähnelt sich. Beim Klima-Leugner handelt es sich um ein ähnlich fragwürdiges Subjekt wie bei seinem nahen Verwandten, dem Corona-Leugner.

Auch nach der Seuche wird ein unstillbares Bedürfnis nach Gewissheit herrschen – kombiniert mit der Neigung, die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Die Menschheit will manchmal eben nicht wissen, sondern glauben.

An Päpsten und Päpstinnen herrscht kein Mangel

Wissenschaftliche Erkenntnisse sind ihrer Natur nach keine ewigen Wahrheiten, sondern nur bis zu ihrer Widerlegung gültige vorläufige Aussagen. Sie lassen sich auch nicht in Gut und Böse einteilen. Moralisch qualifiziert werden können nur die politischen Schlussfolgerungen, die aus ihnen gezogen werden.

Kein Wissenschafter, kein Politiker, aber auch kein Mitglied der allzeit schussbereiten Twitter-Gemeinde sollte einen Unfehlbarkeitsanspruch erheben. Wer wie der Corona-Papst Christian Drosten mit manchem seiner Auftritte dennoch den Eindruck erweckt, er halte sich für unfehlbar, droht im Shitstorm umzukommen.

Der Cocktail aus scheinbarer wissenschaftlicher Objektivität und moralischer Überlegenheit dürfte in der Klimadebatte erneut serviert werden. Die Erderwärmung ist wie die globale Pandemie buchstäblich eine Überlebensfrage. An Päpsten wie Päpstinnen herrscht ebenfalls kein Mangel. Auch die Wortwahl ähnelt sich. Beim Klima-Leugner handelt es sich um ein ähnlich fragwürdiges Subjekt wie bei seinem nahen Verwandten, dem Corona-Leugner.

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