Alexander Kissler

In der Migrationspolitik betreiben CDU und CSU Geschichtsklitterung

12.11.2021
Lesedauer: 4 Minuten
An der Grenze zwischen Weissrussland und Polen kampieren Migranten. Viktor Tolochko / imago

Deutschland wurde unter der Regierung Merkel zum Pull-Faktor für ungeordnete Zuwanderung nach Europa. Wenn die Union heute das Gegenteil behauptet und vor Migrationswellen warnt, leugnet sie ihre eigene Verantwortung.

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Wenn eine Mannschaft ein Spiel verloren hat, kann sie auf zwei Arten reagieren. Sie kann sich zusammenreissen und mit neuem Kampfgeist die kommende Auseinandersetzung angehen. Oder sie kann trotzig in den Rückspiegel schauen, darauf beharren, das meiste dennoch richtig gemacht zu haben, und um den Platz in den Geschichtsbüchern kämpfen. Nach ihrer Niederlage bei der Bundestagswahl versucht es die Union mit der zweiten Methode. Die Bundestagsdebatte am Donnerstag zeigte die Auswirkungen dieser rückwärtsgewandten Verblendung auf besonders neuralgischen Feldern: bei der Corona- und bei der Migrationspolitik.

Dass die Parteien der vermutlich künftigen Regierung – SPD, Grüne, FDP – die epidemische Notlage nicht verlängern wollen, wurde von Rednern der CDU und der CSU als «Realitätsverleugnung» gescholten. Der Vorwurf trifft jene, die ihn erheben. Indem die «Ampel» die Verantwortung für sämtliche Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie in die Hand der Länder gibt, handeln die neuen Koalitionäre angemessen, vernünftig, grundgesetzkonform. Wer, wenn nicht die Verantwortlichen in den Regionen, soll am besten einschätzen können, was vor Ort geboten ist? Ausdrücklich heisst es im Entwurf, der nächste Woche verabschiedet werden soll: «Die je nach der regionalen Situation in den Bundesländern differenzierte Anwendung bleibt gewährleistet.» Alle Massnahmen im geänderten Infektionsschutzgesetz wären bis zum 22. März 2022 befristet.

Bei Merkel gab es nur rhetorisches Placebo

Noch gravierender ist die migrationspolitische Realitätsverleugnung. Mit einem Antrag zur Lage an der weissrussisch-polnischen Grenze versuchen CDU und CSU sich in jener Rolle, in der sie während ihrer langen Zeit an der Regierung gescheitert sind: in der Rolle des Grenzpolizisten. Es gehört viel Chuzpe und eine Portion Unredlichkeit dazu, wenn die Union heute davon spricht, dass die von ihr geführte Regierung «ein gutes Gleichgewicht zwischen Humanität und Ordnung» erreicht habe. Von migrationspolitischer Ordnung war unter Merkel kaum etwas zu spüren. Deutschland blieb dank einem üppig ausgestatteten Sozialstaat und einer enormen Unlust, abgelehnte Asylbewerber ausser Landes zu schaffen, das prioritäre Einfallstor für ungesteuerte Zuwanderung. Die «europäische Lösung», an der zu arbeiten die Kanzlerin behauptete, war rhetorisches Placebo.

Mit ihrem Antrag belastet die Union sich selbst: «Keinesfalls darf Deutschland Anreize setzen, die den Migrationsdruck auf die europäischen Aussengrenzen erhöhen oder zu einer Zunahme des Weiterwanderns von Asylbewerbern aus einem bereits sicheren EU-Mitgliedsstaat nach Deutschland führen.» Die Regierung Merkel war ein solcher Anreiz. Fast nichts wurde unternommen, um die sekundäre Migration innerhalb der EU zu unterbinden. Ob damals an der ungarisch-österreichischen oder der türkisch-griechischen oder heute an der Grenze zu Weissrussland: Deutschland heisst der Pull-Faktor. In die Bundesrepublik wollen die Migranten ziehen. Die «langwierigen Bemühungen, die Migration zu ordnen, zu steuern und zu begrenzen», für die die Union sich rückblickend lobt, bestanden in Appellen und Zurechtweisungen und blieben erfolglos.

Die Union darf sich nicht beklagen

In einem Punkt hat die Union recht: Unter einer rot-grün-gelben Bundesregierung würde das Experiment der offenen Tür forciert. Die Grünen verlangen in ihrem Wahlprogramm «faire und sichere Migrationswege aus Afrika nach Europa», lehnen es ab, die Asylgründe an den EU-Aussengrenzen zu prüfen, fordern einen erleichterten Familien- und Geschwisternachzug und das Recht auf Einbürgerung für alle «nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland». Im Bundestag stellte eine Abgeordnete der Grünen Polen humanitäre Hilfe in Aussicht – Hilfe bei der «Kontrolle, Registrierung, Versorgung und Aufnahme» der Migranten. Die Idee, dass Polen das Recht haben könnte, sein Staatsgebiet zu schützen, kommt in der grünen Gedankenwelt nicht vor.

Am wenigsten freilich sollte sich die Union über ein solches migrationspolitisches Laissez-faire beklagen. Die Regierung Merkel trug durch ihren Sonderweg der Jahre 2015 und 2016 wesentlich dazu bei, den Druck auf Europas Aussengrenzen dauerhaft zu erhöhen. Heute sehen wir: Es wurde Ordnung verloren, ohne Humanität zu gewinnen.

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